Betrifft

Kraftakt! Sie spricht über den Kampf gegen Bulimie

Bistumsarchivarin Jennifer Voßkämper

Bistumsarchivarin Jennifer Voßkämper. Foto Achim Pohl

Diese Frau hat Power! Mühelos zieht sie Kirchenbücher aus den Archivregalen, stapelt sie und trägt sie zügig in ihr Büro. Ihre Bewegungen sind grazil, ihr Gang ist dynamisch. „Inzwischen bin ich stabil“, sagt die Essenerin, die jahrelang an Bulimie litt, selbstbewusst. Dennoch gibt es Tage, an denen sie mit dem Essen hadert. „Ich werde wohl nie wieder ein unbelastetes Verhältnis dazu haben“, erklärt sie, während sie ihrem Job als Archivarin nachgeht und eine Information aus einem Kirchenbuch heraussucht. Eine Tätigkeit, bei der sie äußerst sorgfältig vorgehen muss. „Das liegt mir“, sagt sie. Das Streben nach Perfektion hat sie sich bereits als Kind angeeignet.

Damals hatte sie das Gefühl, nicht gut genug zu sein. „Ich war eher moppelig“, erzählt sie. In der Schule wurde sie deshalb gehänselt. Demütigungen, die sich immer tiefer in ihre Seele fraßen. Mit 13 Jahren beschloss sie abzunehmen, um endlich so auszusehen wie die anderen. „Dünn zu sein bedeutete für mich, Anerkennung, Erfolg und Liebe zu bekommen“, erinnert sie sich. Um ihr Ziel zu erreichen, erbrach sie sich nach den Mahlzeiten. „Ich habe mir gedacht, wenn das Essen aus mir herauskommt, ohne dass ich es verwerte, kann ich nicht dick werden“, beschreibt sie ihre verhängnisvolle Idee. Sie aß weiche Lebensmittel, die sie leicht loswurde. Außerdem trieb sie exzessiv Sport: Schwimmen, Reiten, Joggen. Die Pfunde purzelten, und sie bekam die Aufmerksamkeit, die sie sich erhofft hatte. Ihre Mitschüler machten ihr Komplimente. Sie fand ihren ersten Freund. „Das hat mich in meinem Handeln bestätigt“, sagt die junge Frau.

Der Gedanke, etwas leisten zu müssen, um geliebt zu werden, setzte sich in ihrem Kopf fest. Sie übergab sich bis zu sechsmal pro Tag – heimlich. „Erbrechen kann man sich ganz dezent und leise“, gesteht sie. „Man muss irgendwann nicht mal mehr würgen, sondern sich einfach nur nach vorn lehnen.“ Niemand merkte, dass sie krank ist. „Ich war einfach nicht das typische essgestörte Mädchen, das immer weniger wiegt und irgendwann kaum noch gehen kann“, erzählt sie mit ernstem Gesichtsausdruck. „Ich hatte eine schlanke, sportliche Figur, habe gute Noten geschrieben und einwandfrei funktioniert.“

Nach dem Abitur studierte sie an der Universität Düsseldorf Geschichte und Germanistik. Auch dort erzielte sie erstklassige Ergebnisse. „Es schien so, als ob ich alles im Griff habe“, erzählt sie. Ein Trugschluss: Die Bulimie hatte sie im Griff. Wie eine Schlange, die sich immer fester um den Hals wickelt. Der Druck, nach außen hin perfekt sein zu müssen,stieg. Um ihn loszuwerden, plante Jennifer Voßkämper sogenannte Ess-BrechAttacken. Dann stopfte sie so viel wie möglich in sich hinein. „In diesen Momenten erlaubte ich es mir, ungezügelt zu sein“, erklärt sie ihr Vorgehen, mit dem sie sich Entspannung verschaffte. „Ich musste nicht dem Bild der vorbildlichen Studentin entsprechen, die allen gefiel und nie Stress machte.“

Sie geriet immer tiefer in einen Teufelskreis aus Hungern, Erbrechen und Depressionen. Wenn sie den Druck kaum noch aushielt, kratzte sie sich die Handrücken blutig. Den Schmerz habe sie gebraucht, um zu spüren, dass sie noch da sei. „Das ist wie eine Sucht, wie ein Sog, in den man gezogen wird.“ Nach Abschluss der Universität fand sie keinen Job – trotz zahlreicher Bewerbungen. „Das hat mich gebrochen“, sagt sie mit fester Stimme. „Ich hatte den Drang zu arbeiten. Ich wollte weiterhin funktionieren!“ Ein Leben zu führen, in dem sie keine Leistung erbringen kann – für die Akademikerin zu dem Zeitpunkt undenkbar. „Ich habe versucht, mir das Leben zu nehmen“, gesteht sie erstaunlich offen. „Dabei hatte ich nicht wirklich den Wunsch zu sterben“, stellt sie klar. „Ich wollte einfach mal eine Pause haben, die Batterien aufladen.“ Sie hatte es satt, jeden Tag kämpfen zu müssen.

Nach dem Suizidversuch brachte ihr damaliger Partner sie in das PhilippusStift in Essen, eine katholische Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin. Dort fand sie, wonach sie sich gesehnt hatte: Ruhe. Verständnis. Die Möglichkeit, sich mit sich selbst zu beschäftigen. „Ich habe viele Jahre lang meine Gefühle einfach wegkontrolliert“, erzählt sie nachdenklich. „In der Klinik habe ich tagelang nur geweint. Das war so befreiend.“ Ihre Eltern und Freunde standen hinter ihr. „Das hat mich überrascht“, sagt Jennifer Voßkämper. Und wirkt erleichtert. „Ich habe damit gerechnet, dass die ganze Welt mich verlässt, sobald ich nicht mehr funktioniere. So nach dem Motto: Du bist kaputt, dann kann man dich ja auch wegschmeißen.“ 

Sie merkte, dass es okay war, nicht okay zu sein. Und sie fand ein neues Ventil, um inneren Druck abzubauen: darüber zu reden.Deshalb machte sie im Anschluss an den Klinikaufenthalt eine ambulante Gesprächstherapie am Institut für Psychologische Psychotherapie (IPP) in Bochum. Sie fand neue Kraft, neuen Lebensmut. Einen Job, der sie erfüllt. Und einen neuen Partner, der ihr fest zur Seite steht. Jetzt will sie mit ihrer Geschichte anderen Betroffenen helfen und zeigen, dass man eine Ess-Störung in den Griffbekommen kann, wenn man sich Hilfe holt. „In 99 Prozent der Fälle reagieren die Menschen, denen man sich anvertraut, positiv und mitfühlend“, so ihre Erfahrung. „Und falls mal eine Reaktion negativ ausfällt – egal! Dann ist es derjenige nicht wert.“

Auch ihre Vorgesetzten reagierten mit Verständnis, als sie die Erkrankung preisgab. „Das hat mir Kraft gegeben“, sagt sie, schließt das schwere Kirchenbuch und streicht über den antiken Buchdeckel. Die Bulimie ist ein Kapitel ihres Lebens. Jetzt warten neue auf sie.

Text Kathrin Brüggemann I Fotos Achim Pohl

 

An wen kann ich mich wenden?

Magersucht (Anorexie), Ess-Brech-Sucht (Bulimie) und Ess-Attacken mit Kontrollverlust (Binge Eating) gehören zu den bekanntesten Ess-Störungen. Unbehandelt können sie zu schweren gesundheitlichen Problemen bis hin zum Tod führen. Der erste Schritt für Betroffene oder Angehörigen ist es, sich nach einer ambulanten oder stationären Therapie umzusehen. Kontaktadressen liefert im Normalfall der Hausarzt.

Auswahl möglicher Anlaufstellen:
Institut für Psychologische Psychotherapie (IPP) in Bochum
Telefon Ambulanzbüro: 0234 58402-40, E-Mail: ambulanz@ipp-bochum.de

Therapeutische Wohngruppe „Ruhrbrücke“ in Essen
Intensivangebot für 14- bis 21-jährige Mädchen und Frauen,
Telefon: 0201 319375-320, E-Mail: twgruhrbruecke@cse.ruhr

Allgemeine Infos: www.dgess.de (Deutsche Gesellschaft für Essstörungen)

Netzwerk hilfreicher Initiativen: www.landesfachstelle-essstoerungen-nrw.de
 

Cookie Einstellungen

Performance Cookies erfassen die Informationen über die Nutzungsweise einer Website durch den Besucher.

Anbieter:

Google

Datenschutz

Statistik-Cookies dienen der Analyse und helfen uns dabei zu verstehen, wie Besucher mit unserer Website interagieren, indem Informationen anonymisiert gesammelt werden. Auf Basis dieser Informationen können wir unsere Website für Sie weiter verbessern und optimieren.

Anbieter:

Google

Datenschutz

Datenschutzerklärung | Impressum