Gehen oder bleiben? Ergebnisse der Kirchenstudie
Zwischen März und Mai 2017 haben sich mehr als 3000 Männer und Frauen an einer Internet-Umfrage des Bistums Essen beteiligt und beschrieben, warum sie Kirchenmitglied oder bereits ausgetreten sind. Erste Ergebnisse der Kirchenaustrittsstudie des Bistums stellt Religionspädagoge Ulrich Riegel im BENE-Interview vor (BENE 21, Juli 2017).
BENE: Prof. Riegel, geben Sie uns in aller Kürze noch einmal einen Überblick über das Verfahren Ihrer Untersuchung!
Ulrich Riegel: Zunächst einmal möchte ich sagen: Das Bistum Essen ist sehr fortschrittlich, es geht dem Thema nicht aus dem Weg. Gemeinsam mit einer Projektgruppe des Bistums und weiteren Forscherteams aus Bochum und Berlin sind wir der Frage nachgegangen: Warum verlassen die Menschen die Kirche? Der Ansatz war dabei kein repräsentativer, sondern ein qualitativer. Also: in direkten Kontakt mit Menschen im Bistum zu treten und die genauen Ursachen für einen Austritt zu erforschen. Mehr als 3000 Menschen haben sich an einer ersten Fragebogen-Aktion beteiligt, von denen 305 aus der Kirche ausgetreten waren. Schließlich haben wir dann noch 41 Einzel-Gespräche geführt. Wir wollten auf den Einzelfall gucken und in die Tiefe gehen.
BENE: Welche Hauptmotive hat es für den Austritt aus der Kirche gegeben?
Riegel: Bei den 305 Aussagen kristallisierten sich zwei Ding heraus: erstens Entfremdung und zweitens fehlende Bindung. Hinter diesen beiden Nennungen steckt, dass Kirche von Ausgetretenen als Institituon erlebt wird, die aus Machtinteressen und Ränkespielen besteht, dass sie unglaubwürdig ist, Botschaften und Verhalten von Kirchenvertretern auseinanderlaufen, nach dem Motto: Wasser predigen, Wein trinken. Ein Kirchenaustritt ist, das haben auch frühere Studien gezeigt, eher ein langfristiger Prozess. Wir unterscheiden deshalb nochmal die oben genannten Gründe von den konkreten Anlässen. Und da wurden häufig die Kirchensteuer oder ein konkretes persönliches Erlebnis genannt.
BENE: Das klingt nicht sehr spektakulär, sondern erwartbar.
Riegel: Ja, das ist richtig. Aber darin liegt vielleicht das Provokante! Seit den 1970er Jahren gibt es eine konsistente Linie von Befunden. Also, was hat sich geändert? Ich kann als Wissenschaftler da nur feststellen: Es tut sich nichts. Andererseits, was neu ist: Es gibt auch Menschen, die die Kirche nicht mehr für fromm genug halten, die sagen: Sie komme nicht mehr ihrem eigentlichen Auftrag nach, Eucharistie zu feiern und die Seele der Menschen zu retten. Es ist nur eine kleine Gruppe, aber das hat mich überrascht. Demzufolge ist es also nicht damit getan, zu sagen: Lasst uns an der Kirchensteuer feilen, an den Gewändern rumdesignen, moderner predigen – so einfach ist es nicht.
BENE: Inwieweit wurde „Glaubensverlust“ benannt?
Riegel: Wir leben in einer Welt, in der das Christentum nur eines von vielen Sinn-Angeboten ist. Ökologischer oder humanistischer Lebensstil, Fitnessbewegungen, andere Religionen, andere spirituelle Angebote. Was kann, was will ich glauben? Die Offenheit in der Frage, dessen, was mich trägt, ist jedenfalls nichts, was in der Kirche hält. Du kannst auch ohne glücklich werden. Dass heute jemand austritt, weil er nicht mehr glaubt – diesen Grund gibt es eher selten. In unserer Gesellschaft haben wir gelernt, dass wir ausweichen oder weggehen, wenn uns etwas stört. Die Kirche hat keine Möglichkeit mehr, eine Mitgliedschaft zu erzwingen. Oder positiv formuliert: Ich habe die Freiheit, mich für meinen Lebensentwurf zu entscheiden. Und dass ich für eine Sache, die mich innerlich kaum berührt, keine Energie aufbringe, ist normal, oder?
BENE: Gefühle spielen aber dennoch eine große Rolle, leider eher im negativen Sinne. Ihre Studie zeigt: Oft führen persönlich enttäuschende Erlebnisse mit der Kirche zum Austritt.
Riegel: Das ist uns mehrfach begegnet. Bei denen, die Kirche in ihrem Kosten-Nutzen-Kalkül auf der positiven Seite hatten, weil sie beispielsweise Hochzeit oder Taufe feiern wollen, dann aber teils schwerwiegende Enttäuschungen gemacht haben. Wie beispielsweise eine Mutter, deren Kind vor der Taufe verstarb und der Pfarrer in der Trauerbegleitung versagte. Oder ganz banal: der Vater, der die Firmvorbereitung seines Kindes miterlebte und überhaupt keine Glaubensfreude mehr entdecken konnte. Beide haben gesagt: Das reicht, jetzt ist Schluss.
BENE: Die Schlagworte Zölibat, Frauenbild, Homosexualität wurden in Ihren Interviews auch genannt. Wie wichtig sind die aus Ihrer Sicht?
Riegel: Sie sind insofern relevant, als sie in den Befund der antimodernen Haltung mit reinspielen: Es sind leicht abrufbare Reizthemen, die in einer Umfragesituation schnell kommen, die aber weniger über konkrete Austrittsgründe als über das Image der Kirche aussagen.
BENE: Deshalb darf man sie aber nicht vernachlässigen, oder?
Riegel: Wir sprechen jetzt in der Theorie. Aber ich denke, im konkreten Erlebnisbereich von Pastoral gibt es Handlungsmöglichkeiten. Das hängt natürlich vom Personal ab, das den Menschen eine Chance geben muss, mitzugehen. Das Bistum Essen hat ja mal eine Kampagne gestartet: „Wir brauchen keine frommen Jungs, wir brauchen Priester.“ Aber mutmaßlich haben sich keine anderen Priesteramtskandidaten gemeldet, bloß weil eine andere Imagekampagne gelaufen ist. Ich weiß ja, wofür ich mich da bewerbe, in welchem „Club“ ich da mitmachen will. Und das gilt ja auch für die Pastoral. Menschen, die von solchen Aufgaben angezogen werden, haben natürlich auch ein Publikum, das diese Menschen erwartet. Und dann prallen bei bestimmten Anlässen Welten aufeinander! Nochmal das Beispiel Firmkatechese: Mir hat ein Vater über die in der Gemeinde durchaus beliebte und wohlgelittene Katechetin gesagt: „Weißt du, was das Schlimme ist? Die glaubt auch noch das, was sie sagt!“
BENE: Sind kirchliche Feste und Feiern dennoch eine gute Möglichkeit, Menschen zu binden, die kirchenfern sind?
Riegel: Für mich als Theologe steht da natürlich die Frage: Bis zu welchem Punkt kann ich mich anpassen, ohne meine eigene Idee zu verraten? Wenn also heute ein Vater seine Tochter zum Traualtar führt und dem Bräutigam abliefert, ist das eigentlich ein mittelalterliches, antiquiertes, heute romantisch wahrgenommenes Ritual und nicht das theologische Verständnis von Ehesakrament vor Gott. Aber definitiv sind Feiern wie Hochzeiten, Kommunion oder Taufen die Momente, wo Kirche noch am meisten Leute erreicht, eine gewisse Monopolstellung hat und punkten kann.
BENE: Gab es eigentlich auch Stellungnahmen zum bewussten Verbleib in der Kirche?
Riegel: Das sollte der nächste Schritt sein. Es gibt eine Bandbreite von Menschen, die mehr oder weniger drin sind, die nur punktuell mit Kirche zu haben. Diese Gruppe finde ich sehr spannend. Die Frage ist, ob diese Menschen vielleicht durch eine bestimmt Art von Religiosität gekennzeichnet sind, und ob ich sehen kann, wie nah sie am Austritt oder wie fest sie noch in der Kirche drin sind.*
Das Gespräch führte Jutta Laege