Begegnung

Wieso glauben Sie an Europa, Terry Reintke?

 BENE: Was bedeutet Europa, die europäische Idee für Sie?

Terry Reintke: Für mich bedeutet Europa:Einheit in Vielfalt. Wir wollen Nachbarn, Freunde, Verbündete sein, uns mit all‘unseren kulturellen und historischen Unterschieden anerkennen und zusammenstehen.

BENE: Sind Sie dann nicht in den vergangenen Jahren etwas verzweifelt?

Reintke: Es gab auch Momente, in denen es ans Eingemachte ging und ich mich gefragt habe: Bringt das überhaupt was?

BENE: Sie spielen auf den Brexit an. Sie hatten sich in der Debatte sehr engagiert, waren viel in Großbritannien unterwegs.

Reintke: Das Brexit Votum war für mich ein wirklich trauriger Moment. Ähnlich ging es mir, bei der Wahl Donald Trumps. Da fühlt man sich ohnmächtig. Aber dann gibt es eben auch immer wieder Momente, die mir Energie geben:Wenn ich Leuten begegne, die politisch aktiv sind, die mutige, bewegende Dinge tun, sich für Flüchtlinge, für Menschen in Armut, für junge Menschen, für Freiheit einsetzen. Zuletzt war ich viel in der Türkei unterwegs, habe Menschenrechtsaktivisten getroffen, die mit starken Repressionen kämpfen, teilweise im Gefängnis saßen. Diese Begegnungen zeigen mir immer wieder, wofür es sich zu engagieren lohnt.

BENE: Was, wenn die Gemeinschaft der 27 doch nicht erhalten bleibt?

Reintke: Die Wahlen in Holland, Frankreich und Österreich haben zum Glück gezeigt: Die meisten Bürgerinnen und Bürger sind pro-europäisch. Ich bin in den letzten Monaten viel in Polen und Ungarn unterwegs gewesen. Und auch dort habe ich zahlreiche Menschen getroffen, die für ein offenes und demokratisches Europa kämpfen. Diese Menschen müssen wir unterstützen. Ich bin dafür, dass wir auch weiterhin die Auseinandersetzung mit Orban suchen und für ein Demokratisches Europa streiten. Im Fall Ungarn müsste es auch eine Europäische Staatsanwaltschaft geben, die gegen die Korruption vorgeht. Die EU-Gelder versickern unter Präsident Victor Orban. Da bräuchte es eigentlich einen Sanktionsmechanismus.Das kann der Europäische Rechnungshof nicht alleine.

BENE: Wie muss man sich eine Woche Europa mit Ihnen vorstellen?

Reintke: Sehr reiseintensiv und abwechslungsreich! Natürlich gehören Plenar- und Ausschusssitzungen in Straßburg und Brüssel dazu, aber ich treffe auch viele Leute. Ich verstehe mich nicht so sehr als deutsche, sondern als europäische Abgeordnete, deshalb reise ich auch viel in anderen Mitgliedstaaten, um ein Gespür für die Stimmung vor Ort zu bekommen.

 
BENE: Was bedeutet es für Sie, Parlamentarierin für Europa zu sein?

Reintke: Es ist ein Veränderungsauftrag. Wir müssen dafür kämpfen, dass die Menschen Europa und seine Errungenschaften wieder schätzen. Dazu müssen wir vor Ort sein, zuhören, mitbekommen, was passiert da, und das dann in sinnvolle Gesetze und Verordnungen übersetzen. Das ist ja schon unser Kerngeschäft. Ich arbeite gerade zum Beispiel an einer Richtlinie, die sich mit Lohndumping und sozialer Ungleichheit beschäftigt.

BENE: Es wird häufig vom Europa der zwei Geschwindigkeiten gesprochen. Geht denn das – vor allem im Hinblick aufdie Wirtschafts- und Sozialthemen ?

Reintke: Ich bin auch Mitglied im Regionalausschussdes Europäischen Parlamentes. Dort geht es um die Vergabe von Fördermitteln.Ich glaube, dass unser Veränderungsauftrag mit sich bringt, dass man die europäischen Lebensrealitäten stärker zusammenbringt. Wir müssen in sinnvolle Dinge investieren, um die Unterschiede zu verringern, ansonsten wird das Projekt Europa auseinandergesprengt.

BENE: Unterschiedliche Länderkennzahlen und Mentalitäten, unterschiedliche Historie: Es bleibt eine Mammutaufgabe!

Reintke: Wir müssen weg von der Frage:Aus welchem Land komme ich, hin zu:Welche politischen Ziele verfolge ich eigentlich?Als Grüne Fraktion im Europaparlament versuchen wir das zum Grundsatz unserer Arbeit zu machen. Mit nationalen Interessen kommen wir nicht weiter. Wir müssen grenzüberschreitend denken. Bei vielen Themen liegt das ja so nahe. Denken Sie nur an den Schrottmeiler Tihange in Belgien! Radioaktivität macht eben nicht vor Grenzen Halt.

BENE: Warum ist es aber so schwierig, den Menschen Europa nahe zu bringen?

Reintke: Weil es in der Wahrnehmung häufig ganz groß und dann wieder ganz klein ist. Aber es geht eben nicht nur um den Krümmungsgrad der Gurke – der übrigenslängst abgeschafft ist – oder das Thema Frieden. Wir sind fraktionsübergreifend als Politiker gefordert, das Dazwischen zu füllen. Es gibt viele spannende politische Debatten, mit der die Wähler auch erreicht werden könnten, weil es sie unmittelbar betrifft: Die Frage, ob wir ein gemeinsames Stromnetz wollen, ist so ein Beispiel.

BENE: Beim Geld (verschwenden) hört die Wählergunst auf. Vielen Menschen ist der europäische Apparat zu kostenintensiv und intransparent.

Reintke: Ich lege, wie andere grüne Abgeordnete auch, meine Einkünfte offen. Den größten Anteil der Sitzungsgelder spende ich zudem monatlich an gemeinnützige Organisationen. Ich würde mir wünschen, dass es solche Transparenzregeln für alle Abgeordneten geben würde. Dafür streiten wir als Grüne im Europäischen Parlament. Und dann gibt es noch die Millionen an Mehrausgaben, die die zwei Parlamente Straßburg und Brüssel verursachen.Hier habe ich einen ganz konkreten Vorschlag:Statt des Parlaments richten wir in Straßburg eine europäische Universität ein, an der Stipendiaten aus Elternhäusern mit geringerem Einkommen studieren können – die Symbolik rund um Straßburg würde so erhalten bleiben.

BENE: Nehmen wir Europaabgeordnete und ihre Arbeit zu wenig wahr?

Reintke: Häufig heißt es ja nur: „Brüssel hat entschieden“ und es wird nicht vermittelt, dass im Vorlauf dieser Entscheidung einen Prozess gab und welche Akteure daran beteiligt waren. Zudem spielen auch die Medien eine wichtige Rolle. Bei politischen Debatten auf nationaler Ebene gibt es mehr Informationsvermittlung, auch immer Stimmen der Opposition. In England und Spanienkommen Europapolitiker in den Medien häufiger vor. Warum nicht mal über den Tellerrand schauen und mal einen französischen oder belgischen Politiker zu einem Thema befragen? Ich glaube, dass die Menschen das spannend fänden.

BENE: Klimawandel und Umweltschutz sind die immer gültigen grünen Themen. Wofür stehen die Grünen noch?

Reintke: Wir sind auch eine starke Stimme für soziale Gerechtigkeit. Es muss Mindeststandards geben beim Mindestlohn, bei der Rente – ausgerichtet nach der Wirtschaftskraft des jeweiligen Landes. Das Thema Bildung ist enorm wichtig, weil es auch die Wahrnehmung von Europa betrifft. Leuchtturmprojekte der EU, wie das Studentenaustauschprogramm „Erasmus“ kommen eher Menschen mit mehr Bildung zugute. Oder die Reisefreiheit und die gemeinsame Währung: Die dienen denen, die mehr Geld haben. Aber es geht nicht, dass Europa nur den Besserverdienenden etwas bringt. Wir müssen auch Langzeitarbeitslosen in Südeuropa oder im Ruhrgebiet Perspektiven bieten. Wobei man allerdings klar sagen muss: Der ganze Strukturwandel wäre nicht möglich gewesen ohne die EU. Es hat viele Fördermittel für Wissenschaft und Forschung gegeben.

BENE: Wie kann sich denn dann unsere Region in Europa besser aufstellen?

Reintke: Wir könnten NRW zum Vorreiter beim Klimaschutz machen. Das heißt nicht nur Kohlekraftwerke abschalten, auch die Gebäudesanierung fördern. Wieviel Energie wir noch verschwenden! Und wir sollten die digitale Beweglichkeit fördern. Das, was beispielsweise im Wissenschaftspark Gelsenkirchen – mit EU- und Bundesmitteln gefördert – passiert, zu einem Erfolgsmodell für diese Region machen: Start-ups, kleinere Unternehmen unterstützen und ansiedeln. Wir haben hier viele Fachkräfte, der Wohnraum ist unschlagbar günstig. Wir sollten die Geschichte dieser integrativen Region weiterschreiben. Der Ausspruch „Da will ja keiner hin“ hat sich überlebt, finde ich.

BENE: Es bleibt spannend mit Europa.

Reintke: Die junge Generation zwischen 20 und 35 muss der Idee den Schub geben. Viele junge Menschen haben eine große europäische Offenheit. Am Ende wird es auf diese Generation ankommen.

Das Gespräch führte Jutta Laege

 

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