Teaser 1

Abschied nehmen: Wenn das eigene Kind stirbt

Junge Familie blickt auf ihre Tatoos

Melissa und Florian Fischer aus Bochum. Sie ließen sich den Fußabdruck ihres verstorbenen Sohnes auf den Unterarm tätowieren. Foto: Achim Pohl

„PIET GEHÖRT ZU UNS“

Auf dem grauen Sofa liegen Kissen mit der Aufschrift „I love you“ und „Be happy“. An der Wand steht eine Kinderküche, auf dem Sessel sitzt ein Kuschelaffe. Es ist sehr gemütlich bei Florian Fischer (29) und Ehefrau Melissa (28), die mit Töchterchen Ennie (20 Monate) in einem Einfamilienhaus leben. Ein Hingucker ist die Fotowand im Wohnzimmer. Man sieht Ennie kurz nach der Geburt, Ennie als Säugling, Ennie mit ihren Eltern. Auf einem Bild erkennt man eine winzige Hand, die von zwei starken Händen gehalten wird. „Das ist das einzige Foto, das wir von unserem Sohn Piet haben“, sagt Melissa Fischer und streicht liebevoll über den Fotorahmen. „Leider durften wir ihn nicht kennenlernen.“

Piet ist ein Sternenkind. So nennt man Kinder, die vor, während oder kurz nach der Geburt sterben. „Meine Frau hatte eine unauffällige Schwangerschaft“, erzählt Florian Fischer, ohne zu zögern. „Am 26. Dezember 2015, einen Tag vor dem Geburtstermin, kam sie mit geplatzter Fruchtblase ins Krankenhaus. Bis dahin sind wir davon ausgegangen, dass alles gut ist.“ Doch es war nichts so, wie es sein sollte. Piet war zu dem Zeitpunkt bereits seit mehreren Tagen tot. Die Plazenta, die ihn mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgen sollte, habe nicht mehr funktioniert, erklärten die Ärzte. Melissa Fischer bekam starke Medikamente, die sie betäubten. „Nur so konnte ich diese furchtbaren Stunden überstehen“. Sie musste ihren toten Sohn auf natürlichem Weg auf die Welt bringen. „Das war schrecklich“, erinnert sie sich. „Als der kleine Mann dann da war, durfte er noch ein paar Stunden bei meinem Mann und mir bleiben.“ Sie kuschelten sich an ihn, weinten um ihn. Machten mit dem Handy ein Foto von seinem Händchen. „Der schlimmste Moment war der, in dem wir uns dazu entschließen mussten, ihn gehen zu lassen.“

Danach fielen beide in ein Loch. „Für uns ist eine Welt zusammengebrochen“, sagt Florian Fischer mit leiser Stimme. Alles war auf die Ankunft von Piet vorbereitet, nicht auf seinen Abschied. Die Beerdigung musste organisiert, das Kinderzimmer ausgeräumt werden. Verwandte und Arbeitgeber waren zu informieren. „Dazu kommt, dass man sich Vorwürfe macht“, sagt Melissa Fischer. „Man fragt sich, ob man etwas hätte merken müssen.“ Gemeinsam gingen die Eheleute zum Psychologen. Und sie besuchten das Sternenkinder-Café in Bochum. Hier können sich Mütter und Väter zweimal im Monat mit anderen Betroffenen austauschen.

Was den beiden in dieser Zeit geholfen hat? „Reden, reden und nochmals reden“, betont Melissa Fischer. „Das Thema bloß nicht totschweigen.“ Die Reaktionen auf den Verlust ihres Sohnes waren überraschend, berichtet sie. Die gelernte Friseurin erzählt von Menschen, die das Thema wechseln, wenn sie mit ihnen über das Erlebte sprechen möchte, die erstarren oder anfangen zu weinen. „Das Schlimmste ist, wenn wir das Gefühl haben, dass das, was uns passiert ist, ignoriert wird.“ Wenn jemand nicht weiß, wie er sich ihnen gegenüber verhalten soll, können sie das nachvollziehen. „Ich finde es gut, wenn man dann einfach sagt: ,Mich überfordert das‘ oder ,Mir fehlen die Worte‘“, schlägt Florian Fischer vor. „Das ist besser, als wenn man einfach so tut, als wenn man nichts gehört hätte.“

Sehr verletzt habe ihn auch die Aussage, dass es „makaber“ sei, Bilder seines toten Kindes in der Wohnung aufzuhängen. „Da gibt es kein Richtig oder Falsch, da muss jeder für sich selbst entscheiden, wie er damit umgeht“, findet er. „Wir hätten gern noch mehr Bilder von Piet“, bekräftigt seine Ehefrau. Sie habe damals jedoch noch nicht gewusst, dass es spezielle Sternenkinder-Fotografen gibt. „Man hätte so vieles noch machen können, wenn man mehr über das Thema gewusst hätte“, bedauert sie.

Ein knappes Jahr später versuchen sie es noch mal. Melissa Fischer wird wieder schwanger. Ein Segen, aber auch eine Belastung. Die Monate bis zur Geburt waren für die junge Mutter „furchtbar“. Die Angst, wieder ein Kind zu verlieren, saß ihr ständig im Nacken. Um auf Nummer sicher zu gehen, wurde die Geburt ihrer Tochter eine Woche vor dem Stichtag eingeleitet. Sie dauerte 29 Stunden. „Als Ennie dann endlich da war, hatten wir ein absolutes Glücksgefühl“, erinnert sich Melissa Fischer. Ihre Augen strahlen. Die Kleine sei ein geduldiges, aufgewecktes Kind mit einem starken Willen. „Sie ersetzt Piet nicht, sie ist eine individuelle Persönlichkeit. Dennoch fragen wir uns natürlich, ob ihr Bruder so ähnlich ausgesehen hätte wie sie oder ob er Dinge, die sie gut kann, auch gekonnt hätte.“

Ein- bis zweimal pro Woche besucht die Familie Piets Grab auf einem Friedhof in Bochum-Wattenscheid. Dort haben die drei vor ihrem Umzug nach Castrop-Rauxel gelebt. „Ennie hat dann immer eine kleine Gießkanne und einen Handfeger dabei“, erzählt Melissa Fischer lächelnd. „Für sie ist es dort wie in einem Gärtchen.“ Bevor sie gehen, verabschiedet sich Ennie von ihrem großen Bruder mit einem Luftkuss. „Piet gehört zu uns“, stellt Florian Fischer klar. „Er wird immer unser Erstgeborener sein.“

Text: Kathrin Brüggemann
Fotos: Achim Pohl

Cookie Einstellungen

Performance Cookies erfassen die Informationen über die Nutzungsweise einer Website durch den Besucher.

Anbieter:

Google

Datenschutz

Statistik-Cookies dienen der Analyse und helfen uns dabei zu verstehen, wie Besucher mit unserer Website interagieren, indem Informationen anonymisiert gesammelt werden. Auf Basis dieser Informationen können wir unsere Website für Sie weiter verbessern und optimieren.

Anbieter:

Google

Datenschutz

Datenschutzerklärung | Impressum