Juni 2025
KIRCHE-SEIN NEU GEDACHT
„Christlich leben. Mittendrin.“ heißt das Zukunftsprogramm im Bistum Essen
Die Worte haben so eine Wucht, dass sie manche zunächst erschüttern könnten: „Christinnen und Christen geraten in Deutschland in eine Minderheitenposition. Eine wachsende Mehrheit der Bevölkerung hält religiöse Welt- und Lebensdeutungen für irrelevant und lehnt sie ab. Diese Entwicklung ist nicht umkehrbar.“ Diese nüchterne Einschätzung stammt tatsächlich von der katholischen Kirche selbst: Das Bistum Essen liefert sie in seiner aktuellen „Zukunftsvision“. Darin geht es um Wege, wie sich christliche Werte erfolgreich in die kommende Zeit tragen lassen können – ausgehend von einer sachlichen Betrachtung der Gegenwart. Es ist die Konzeptbeschreibung eines weitreichenden Programms, das nun nach und nach im gesamten Ruhrbistum umgesetzt werden soll: „Christlich leben. Mittendrin.“ (CLM) lautet der offizielle Name. Was bedeutet das für die Menschen zwischen Rhein und Lenne? BENE liefert einen ersten Einblick in das Programm, das in Bottrop und Oberhausen bereits Fahrt aufgenommen hat.
„Bisherige kirchliche Angebote“ und „die gesamte religiöse Sprache“ verlieren „ihre gesellschaftliche Anschlussfähigkeit und werden nicht mehr verstanden“. Auch das sind Aussagen aus der „Zukunftsvision“, die Menschen empfindlich treffen könnten, die sich nach wie vor kirchlich gut aufgehoben fühlen und sich vielleicht sogar selbst im kirchlichen Umfeld engagieren. So wie Monika Lux. Die 48-Jährige ist seit ihrer Kindheit aktive Katholikin. „Ich war Messdienerin, Kommunionhelferin, Lektorin und im Pfarrgemeinderat. Mittlerweile bin ich im Kirchenvorstand der Pfarrei Herz Jesu. Wie das eben so ist in katholisch geprägten Familien“, sagt die Oberhausenerin lachend – und es klingt dabei durchaus Zufriedenheit mit. Trotzdem sieht auch sie, dass Kirche sich verändern muss, um zu bestehen. Und so ist zu Monika Lux’ Ehrenämtern ein weiteres hinzugekommen: Sie bereitet CLM in Oberhausen mit vor, damit das Programm dort zum Jahreswechsel in die nächste Phase gehen kann. Parallel tun dies Haupt- und Ehrenamtliche des Ruhrbistums auch in Bottrop.
Welche Veränderungen sieht CLM vor? „Es wird jeweils eine Stadtkirche gegründet“, bringt es Björn Szymanowski auf den Punkt. Er ist beim Bistum gemeinsam mit der Theologin Andrea Qualbrink zuständig für die strategische Weiterentwicklung von Seelsorge. Mit dieser „Stadtkirche“ sei eben nicht nur das klassische Gemeindeleben gemeint, so Szymanowski. Es sei der Oberbegriff, das Dach für ein enger zusammenrückendes Netzwerk aller katholischen Einrichtungen, Verbände, Angebote und Initiativen einer Stadt. Auch die Pfarrei wird Partnerin im Netzwerk der Stadtkirche.
Eine Maßnahme, die damit einhergeht, ist darum zunächst die Gründung von jeweils einer einzigen Pfarrei in Oberhausen und Bottrop. Um diese künftige Neuausrichtung verständlich zu machen, verweist Björn Szymanowski auf die Vergangenheit: „Das Ideal von der Pfarrei, die ein bisschen wie eine große Familie ist, hat sich erst in den 1960er- und 70er-Jahren entwickelt. Auch im Bistum Essen war das das damalige Prinzip: ,möglichst viele Kirchen, damit sich dort überschaubare Gruppen von Gläubigen versammeln können‘. Als Ergebnis hatten wir viele hochengagierte Gruppen in den Gemeinden. Das war und ist toll: weil das Nähe bietet und Verlässlichkeit“, so Szymanowski anerkennend.
„Was man aber auch anerkennen muss“, fügt der Theologe an, „diese Form von Gemeinschaft ist nicht mehr die gängigste. Es gibt zum Beispiel viel mehr kurzfristige Verbundenheitsgefühle als früher: etwa zu Menschen, die mit mir ein Fußballspiel gucken, ein Musikfestival, eine Spielemesse oder ein Oldtimer-Treffen besuchen“, nennt er Beispiele. „Dieses Freizeitverhalten sollten wir ernst nehmen, bei dem das gemeinsame Anliegen im Mittelpunkt steht.“
Das gemeinsame Anliegen ist bei Kirche klar: die Nächstenliebe, das Mit- und Füreinander der Menschen. „Wir befragen den christlichen Glauben neu danach, was er konkret für das Leben einzelner Menschen und für die gesamte Gesellschaft bedeutet – und welche positive Wirkung er entfalten kann“, heißt es dazu in der offiziellen „Zukunftsvision“. Und weiter: „Mit dem Programm ,Christlich leben. Mittendrin.‘ wird das Bistum Essen dafür Sorge tragen, dass in der Breite der Gesellschaft vielfältige, unterschiedliche christliche Orte bestehen, an denen Menschen mit unterschiedlichen Herkünften und Bedürfnissen ein Gegenüber finden, an denen Christinnen und Christen ihren Glauben durch konkrete Dienste und Aktivitäten erfahrbar werden lassen.“ Dieses Ziel lasse sich „angesichts der radikal sinkenden personellen und finanziellen Ressourcen eines Christentums in der Minderheit“ nur erreichen, wenn bisherige Strukturen effizient zusammengeführt würden.
Wie könnte das in der Praxis aussehen? „Indem die einzelnen Gruppen und Partner innerhalb der Stadtkirche weiterdenken“, antwortet Björn Szymanowski. „Dass wir uns zum Beispiel nicht abgrenzen und sagen: ,Wir hier sind Pfarrei‘ und ,Da drüben sitzt die Katholische Erwachsenen- und Familienbildung‘, ,Die dort sind von der Caritas und vom KiTa Zweckverband‘ und so weiter. Sondern dass man bei bestimmten Dingen über- legt: Haben wir gemeinsame Anliegen? Wer ist denn zum Beispiel außer uns noch interessiert daran, etwas zum Thema Einsamkeit anzubieten? Oder der Frage nach Obdachlosigkeit nachzugehen? Die Liste ließe sich lange fortsetzen.“
Monika Lux räumt ein: „Das Programm erfordert Mut, den Weg ist noch niemand gegangen. Aber ich bin überzeugt: Das ist eine große Chance für die Städte im Bistum. Wenn wir die Menschen stärker miteinander vernetzen, wird vieles besser. Nach den Kirchenschließungen ist es wichtig, neue Orte der Heimat und der Begegnung zu schaffen. Bei uns in Oberhausen sehe ich schon erste Anzeichen, dass es gelingen kann.“ Als Beispiel nennt die 48-Jährige das inklusive Kirchencafé „Mary & Joe“ am Centro Oberhausen.
Weitere Wege zu neuen Formen des Kirche-Seins, um christliche Werte in Zukunft zu leben, werden jeweils vor Ort in Zusammenarbeit mit Verantwortlichen des Bistums entwickelt. In Bottrop nennen die CLM-Engagierten ihre Runden zum gemeinsamen Überlegen und Vorbereiten „Denkfabriken“, in Oberhausen „Ideen- schmieden“.
„Ich selbst moderiere eine Ideenschmiede zu den Themen Engagement und Mitbestimmung“, erzählt Monika Lux. Sie hat drei Kinder im Alter von 14, 16 und 19 Jahren. „CLM ist immer wieder Thema bei uns am Küchentisch. Unsere beiden älteren Töchter arbeiten auch in Ideenschmieden mit. Sie trauern noch ein bisschen der Kirche ihrer Kindheit hinterher, aber sind trotzdem offen. Sie sagen: ,Alles ändert sich, und wir müssen nach vorne gucken.‘“
Über die künftige Entwicklung des Programms „Christlich leben. Mittendrin.“ wird BENE nun regelmäßig berichten. Die hier zitierte „Zukunftsvision für die Kirche im Ruhrbistum“ ist komplett im Internet zu lesen unter bene.mg/zukunftsvision. Bei weiteren Fragen ist die Koordinierungsstelle unter programm-clm@bistum-essen.de zu erreichen.
Text Sandra Gerke