Bewusstsein

Besser spät als nie! Umbrüche im Alter

Andrea Steinforth

13. Juni 2023

BESSER SPÄT ALS NIE
Umbrüche in der zweiten Lebenshälfte

Plötzlich ist er da. Der eine Moment, der alles verändert. Der dazu führt, dass man die eigene Biografie noch mal neu in den Blick nimmt und endlich begreift, warum man so ist, wie man ist. Das kann eine überraschende Erkenntnis sein oder eine Begegnung, die einen völlig umhaut. Die Menschen, die wir Ihnen hier vorstellen, haben diesen Moment erlebt. Und sie haben im Essener „Zentrum 60 plus“ vor einem großen Publikum davon berichtet – um sich öffentlich zu zeigen und um anderen Mut zu machen. Und das wollen sie auch in BENE tun.

Andrea Steinforth erfuhr erst mit 47, dass sie hochbegabt ist

Die Farbe Orange steht für Lebensfreude und Energie. Beides hat Andrea Steinforth in der Vergangenheit häufig gefehlt. Deshalb trägt sie diesen leuchtenden Ton inzwischen umso lieber. Sie möchte zeigen, dass es ihr gut geht. „Ich bin ein schräger Vogel“, sagt sie. „Aber ich weiß jetzt, dass ich richtig bin, wie ich bin.“ Bis zu dieser Erkenntnis vergingen fast 50 Jahre.

„Ich habe mich nie als intelligent wahrgenommen“, erzählt sie. „Ich habe mich immer anders gefühlt und hatte eher den Eindruck, nicht so gut zu sein wie die anderen.“

Das, was für andere Kinder aus ihrer Schulklasse einfach war, fiel ihr schwer. Der Grund: Sie dachte länger und intensiver über etwas nach als andere und hatte dadurch Nachteile. „Es war für mich als Kind zum Beispiel fast unmöglich, einen einfachen Baum zu zeichnen, weil ich vor meinem inneren Auge so viele Details hatte.“ Während sie noch überlegte, wie sie all die Äste und Blätter darstellen sollte, waren die anderen längst fertig mit dem Bild.

Sie verließ die Schule mit einem durchschnittlichen Realschulabschluss. Nach Ausbildungen zur Arzthelferin und Krankenschwester schulte sie aus gesundheitlichen Gründen zur Industriekauffrau um und leitete schon als 28-Jährige ein Altenheim. Sie merkte, dass sie gut organisieren kann – mit Intelligenz brachte sie das allerdings nicht in Verbindung. Erst als bei ihrem Adoptivsohn eine Hochbegabung festgestellt wurde, befasste sie sich mit dem Thema und besuchte eine Selbsthilfegruppe. Dort, unter lauter Hochbegabten, ging es ihr plötzlich besser. „Ich fühlte mich sofort zu Hause“, erinnert sich die sympathische Essenerin.

Sie machte einen Test, der ihr einen Intelligenzquotienten von 145 bescheinigte – Höchstbegabung in allen Bereichen. Ein durchschnittlicher Intelligenzquotient liegt bei 100. Ein unerwartetes Ergebnis, das viel bei ihr auslöste. Das Wissen, hochbegabt zu sein, beschreibt sie mit  leuchtenden Augen als eine Art „Erwachen“.  

Mit Ende 40 begann Andrea Steinforth ein Psychologiestudium, das sie vier Jahre später mit Bestnoten abschloss. Danach eröffnete sie eine Beratungsstelle, in der sie vor allem spät entdeckte Hochbegabte unterstützt. „Das Erkennen der eigenen Hochbegabung ist die Chance auf eine nachträgliche Heilung. Die Chance, das Leben rückblickend besser zu verstehen.“

Betroffene Menschen brauchen ein Umfeld, in dem sie in ihrem Element sein können. „Wir benötigen besondere Bedingungen“, betont sie und verdeutlicht das an dem Beispiel des Pinguins, der nur dann zeigen kann, was er draufhat, wenn er ins Wasser gleiten darf. In der Wüste hätte er keine Chance. „Die meisten genialen Menschen fallen überhaupt nicht auf“, so Andrea Steinforth. „Das Einzige, was alle eint, ist eine außerordentliche Wahrnehmungs- und Denkfähigkeit. Hochbegabte nehmen Dinge viel intensiver wahr als andere.“

Ein anstrengendes Persönlichkeitsmerkmal, das zu Fehldiagnosen führen kann. Deshalb möchte die Psychologin für Aufklärung sorgen. „Es lohnt sich, Hochbegabte zu erkennen und ihre Fähigkeiten zu fördern“, sagt sie. „Sie sind in der Lage, neue Ideen zu entwickeln und die Welt zu verbessern.“

Informationen zu den Angeboten von Andrea Steinforth erhalten Sie im Internet auf www.highident.de

Mit Ende 50 das erste Mal in einen Mann verliebt

Johannes Persie kann sich noch genau an den Augenblick erinnern, der seinem Leben eine neue Richtung gab. Es war der Moment, in dem er merkte, dass er sich zu einem Mann hingezogen fühlt. Bis dahin lebte der zweifache Vater mit seiner Ehefrau im Essener Süden, arbeitete als Lehrer an einer Krankenhausschule und vermisste: „Nichts!“

Zwar gab es „in meiner Ehe Höhen und Tiefen“, aber er habe nie den Wunsch verspürt, sich dem anderen Geschlecht zuzuwenden. Bis er Simon traf. „Das war im wahrsten Sinne des Wortes umwerfend“, so der 69-Jährige, der gern an die Situation vor zehn Jahren zurückdenkt. Er verliebte sich in den jüngeren Mann, der ihm eine ganz neue Sicht auf das Leben eröffnete.

Gleichzeitig spürte Johannes Persie eine tiefe Verzweiflung. Dass sein Leben plötzlich eine so unerwartete Wendung nahm, überforderte ihn. „Ich hatte das Gefühl, in einem Ruderboot ohne Ruder zu sitzen. Meine Gefühle gingen wie der Wellengang des Meeres, auf und ab, hin und her.“ Er suchte sich therapeutische Hilfe und sorgte für Klarheit, indem er seiner Frau gestand, was mit ihm los war. Der Schock und die Trauer über das Ende einer langen Beziehung waren „bei uns beiden groß“. Aber es kam auch der Wunsch auf, Kindern, Freunden und Eltern gegenüber ehrlich zu sein. „Meine Frau und ich wollten nichts verheimlichen“, so der Essener.

Sieben Jahre war Johannes Persie danach mit Simon zusammen. Eine Zeit, in der er viele Menschen traf, die abseits der heterosexuellen Norm leben. „Ich lernte die Vielfalt des Lebens kennen. Für mich war das eine Bereicherung“, sagt er mit einem Lächeln im Gesicht. Dennoch sei ihm klar, dass viele Homosexuelle mit gesellschaftlicher Ausgrenzung und beruflichen Problemen kämpfen müssten. Einmal im Monat besucht er die Selbsthilfegruppe „Schwule Väter und Ehemänner“ in Essen, um sich mit Leuten auszutauschen, denen es so ergangen ist wie ihm. „Einige von ihnen führen bis heute ein Doppelleben“, erzählt er besorgt.

Johannes Persie, der inzwischen einen neuen Partner hat, geht ganz bewusst mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit: „Stellvertretend für die vielen Menschen, die das aus welchen Gründen auch immer nicht können.“

Informationen zu der Essener Selbsthilfegruppe „Schwule Väter und Ehemänner“ erhalten Sie im Internet auf www.sve-essen.de.

Erst mit Ende 50 begriff Wolfgang Pomierski, dass er psychisch krank ist

Licht und Schatten. Extreme Höhenflüge und tiefe Niedergeschlagenheit. Das Leben von Wolfgang Pomierski gleicht einem ewigen Auf und Ab, das er in seiner Kunst festhält. Er schreibt tiefsinnige Texte, fotografiert und malt. Nachdenklich zeigt er in seiner Wohnung seine gesammelten Werke. Es sind oft düstere Bilder, die von Wut und Verzweiflung erzählen. Aber auch viele hoffnungsvoll wirkende Naturaufnahmen.

„Fotografie fand ich schon immer spannend“, sagt er. Mit über 40 zog er los, um die Orte abzulichten, an denen er seine Kindheit verbracht hat. Die Fotos halfen ihm dabei, zu verstehen und zu verarbeiten, was ihm als jungem Menschen angetan worden war: Gewalt, Demütigung, Misshandlung.

Den Schmerz, den er in seiner Kindheit erleben musste, spürte er auch noch als Erwachsener. Er hatte immer wieder extreme Stimmungsschwankungen und Panikattacken. Um das auszuhalten, suchte er Zuflucht in Alkohol und Medikamenten, aber auch im Extremsport. Ein jahrzehntelanger Leidensweg ohne feststehende Diagnose. Sein Therapeut erkannte lange nicht, dass die Ursachen für seine Süchte schwere psychische Krankheiten waren.

Erst mit 58 erfuhr Wolfgang Pomierski, dass er an einer schweren Persönlichkeitsstörung, einer posttraumatischen Belastungsstörung und Depressionen leidet. „Das war für mich Schock und Erleichterung zugleich“, sagt er. „Endlich hatte ich die Erklärung für mein Verhalten und konnte lernen, mit meinen extremen Emotionen umzugehen.“  Eine Ergotherapeutin, eine Traumatherapeutin und eine Pädagogin der betrieblichen Beratungsstelle halfen dem ehemaligen Erzieher dabei. Sie bestätigten ihn auch in seinem Vorhaben, offen über das, was er erlebt hat, zu sprechen.

Wolfgang Pomierski möchte zeigen, dass man sich für seelisches Leid und psychische Probleme nicht schämen muss. Kürzlich hat er in einer Schule für Ergotherapie seine Geschichte erzählt. Das sei etwas, was er gern häufiger machen möchte: Menschen mit seiner Offenheit, seinem Fachwissen und seiner kreativen Verarbeitung eine neue Sichtweise auf psychisch Kranke zu verschaffen.

Sollten Sie selbst psychische Probleme haben, kontaktieren Sie bitte das Krisentelefon der „TelefonSeelsorge“ unter den Rufnummern 0800 1110111 und 0800 1110222. Dort erhalten Erkrankte und Angehörige Soforthilfe.

Das Leben neu erzählen

Das „Zentrum 60 plus“ (Bezirk 1) des Caritasverbandes für die Stadt Essen e.V. ist ein Begegnungs- und Beratungsort in der nördlichen Innenstadt. In der BiografieReihe „Vom Sein und Werden – Das Leben neu erzählen“ stehen Menschen im Fokus, die sich auf die Suche nach Erfüllung und Erneuerung begeben haben. Weitere Informationen erteilt die Mitarbeiterin Christina Gericke unter der Telefonnummer 0201 319375926

Text Kathrin Brüggemann

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