Bewusstsein

Wieder ins Licht: Ihr Kampf gegen die Alkoholsucht

Sabine Thomczyk im Ruhr Museum der Zeche Zollverein

Sabine Thomczyk im Ruhr Museum der Zeche Zollverein. Foto: Achim Pohl

WIEDER INS LICHT

Kleine Glitzersteine funkeln auf ihrem bunt gemusterten Oberteil. Die kurzen Haare sind rötlich gefärbt, die gepflegten Fingernägel knallorange lackiert. Am auffälligsten: ihr Lächeln. Sabine Thomczyk strahlt bei dem Gespräch auf der Zeche Zollverein mit ihrem Outfit um die Wette. „Wenn ich in den Spiegel blicke, mag ich, was ich sehe“, sagt die 58-Jährige selbstbewusst. „Bis vor wenigen Jahren konnte ich meinen Anblick kaum ertragen.“

Ehrliche Worte einer Frau, die sich dazu entschlossen hat, offen über ihre Geschichte zu sprechen. „Wenn ich auch nur einem Menschen damit helfen kann, bin ich glücklich“, begründet sie ihre Entscheidung, während sie im Café „Schacht XII“ sitzt und einen schwarzen Kaffee trinkt. Sie halte sich gern auf dem Gelände des Weltkulturerbes auf, sagt sie. „Dieser Ort ist beständig, rau und dynamisch. Das mag ich.“

Die Tochter eines Bergmannes geriet schleichend in die Alkoholsucht. Der Auslöser sei das Scheitern ihrer Ehe gewesen, glaubt die dreifache Mutter. „Mein damaliger Ehemann verließ mich von heute auf morgen“, sagt sie mit ernster Miene. Ihr Lebensplan zerbrach wie ein Porzellanteller, der auf den Boden fällt. Sabine Thomczyk stürzte in eine heftige Depression, erlebte schwere Unruhezustände. „Die Traurigkeit war so tief, dass ich das Gefühl hatte, es ist alles sinnlos.“ Medikamente schlugen nicht richtig an, Therapien halfen ihr nicht. Irgendwann griff sie nach Feierabend zum Bier. „Dann trat Ruhe ein“, erinnert sie sich und lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück. „Es fühlte sich alles nicht mehr so schwer an. Ich konnte endlich mal von der Depression abschalten.“

Ein Effekt, der ihr gefiel. „Nach kurzer Zeit brauchte ich immer mehr Alkohol, um diesen Effekt zu erzielen“, fährt sie ohne zu zögern fort. Die Worte sprudeln förmlich aus ihrem Mund. Zum Schluss waren es mehrere Flaschen Bier und zwei Flaschen Wein, die sie pro Abend trank. Die harten Sachen rührte sie nicht an. „Dazu wäre es aber früher oder später gekommen“, ist sie sich sicher. Sie verheimlichte die Trinkerei vor Kindern und Kollegen. Kaufte in unterschiedlichen Supermärkten ein, damit ihr Konsum nicht auffällt. „Natürlich spürt man, dass etwas nicht stimmt, wenn man jeden Abend betrunken ist“, sagt sie ehrlich. „Aber ich redete mir ein, dass das nicht so schlimm ist.“ Schließlich stand sie jeden Morgen auf, bewältigte den Haushalt, kümmerte sich um ihre Kinder. Tagsüber funktionierte sie. Abends gab sie sich die Kante. „Man lügt sich das schön“, gibt sie zu. „Man will alles sein, aber kein Alkoholiker. Das sind die, die am Bahnhof in der Ecke liegen.“

„Ich gestand mir ein, dass ich Alkoholikerin bin."

Der Alkohol verschlimmerte ihre Depression. Und er löste schwere Angst- und Panikattacken bei ihr aus. „Irgendwann wehrt sich das Gehirn gegen das Gift, mit dem es überschwemmt wird“, erklärt sie. Wahrnehmung und Gedächtnis ließen nach. Der Körper baute ab. Sie vergleicht ihre Hilflosigkeit mit einem Weinglas, in das man sein Leben schmeißt. „Es schwimmt darin herum, aber man kann nichts tun“, erklärt sie ihren damaligen Gefühlszustand. Es dauerte sechs Jahre, bis Sabine Thomczyk erkannte, dass sie nicht so hilflos war, wie sie dachte. In einem lichten Moment meldete sie sich in einer Suchtklinik an. „Ich wollte, dass die Depression endlich verschwindet“, sagt sie und verschränkt die Arme vor der Brust. In der Therapie erkannte sie, was sie lange nicht wahrhaben wollte: „Ich gestand mir ein, dass ich Alkoholikerin bin.“

Die Erkenntnis war der erste Schritt in Richtung Genesung. Der zweite war der körperliche Entzug. Danach erlernte sie Strategien, um auch nach der Rückkehr in ihre Wohnung nüchtern zu bleiben. „Das war nicht leicht“, sagt sie. Die Gefühle, die sie mit dem Alkohol betäubt hatte, trafen sie mit einer Wucht, die sie fast umhaute. Der Griff zum Gift: so einfach, so erleichternd. Doch Sabine Thomczyk blieb standhaft. „Sobald ich den Drang verspürte, zu trinken, befahl ich mir, drei Gründe dafür zu finden.“ Die fand sie nicht. Stattdessen fand sie das wieder, was ihr vor ihrer Erkrankung Spaß gemacht hatte: das Kreativsein. Kurzgeschichten schreiben, basteln, sticken. „Während der Depression und meiner ,nassen‘ Phase konnte ich das gar nicht, die Konzentration war ganz einfach nicht da“, erzählt sie. „Ich musste mir mein liebstes Hobby zurückerobern. Sticken ist für mich wie Meditation, ich kann dann regelrecht fühlen, wie der Stresspegel sinkt. Schon das Ansehen kräftiger Farben hebt meine Laune.“

Nach drei Monaten wurden die depressiven Phasen kürzer, die Panikattacken seltener. Sie lernte, wieder rauszugehen, besuchte eine Selbsthilfegruppe des Kreuzbund-Diözesanverbandes Essen. „Als ich das erste Mal dort war, habe ich den ganzen Abend durchgeweint“, erzählt sie. „Ich dachte, ich gehe nie wieder dorthin.“ Doch sie blieb am Ball. „Eine Selbsthilfegruppe ist wie ein schützendes Nest“, sagt sie, während sie ihre Hände an der Tasse wärmt. „Man wird gehört, verstanden, akzeptiert und unterstützt.“ Inzwischen ist sie Gruppenleiterin und stellvertretende Vorsitzende des Verbandes. „Sie hat gelernt, warum Menschen süchtig werden. „Eine Sucht ist immer auch eine Flucht. Eine Flucht vor einer Lebenssituation, die einen überfordert oder die man nicht erträgt. Ein traumatischer Verlust, eine Trennung, ein Kind, das krank wird.“

Nicht jeder Mensch wird abhängig, weil er durch eine Lebenskrise geht. „Es gibt Menschen, die schaffen das allein. Andere greifen zur Flasche oder zu anderen Suchtmitteln“, erklärt sie. Sobald man das Gefühl habe, das Suchtmittel erleichtere einem das Leben, sei man in der Falle, warnt sie. Generell sei es ratsam, Interessen aufzubauen, die einen tragen, wenn etwas anderes wegbricht. „Der Alkohol hatte mir jegliches Selbstwertgefühl genommen“, reflektiert die 58-Jährige. „Ich habe mich nicht mehr wie ein Mensch gefühlt, sondern nur noch wie ein depressives, betrunkenes Wrack. Früher war alles dunkel und einsam – jetzt traue ich mir das Leben zu.“

Allein Zug fahren, Kongresse besuchen, die eigene Meinung vertreten: Was lange nicht ging, ist heute kein Problem mehr. „Früher wollte ich nicht auffallen“, erinnert sie sich.„Jetzt gehe ich erhobenen Hauptes durch einen Raum.“ Als trockene Alkoholikerin muss sie sich immer wieder behaupten, zu sich und ihrer Erkrankung stehen. Nein sagen. „Meistens ist es kein Problem, wenn man sagt, dass man nicht trinkt. Aber es gibt auch Menschen, die das nicht verstehen.Für die ist man dann die Spaßbremse.“ Wenn andere in ihrer Gegenwart Alkohol konsumierten, sei das in Ordnung, sagt sie. Sie selbst rührt keinen Tropfen mehr an. „Ich habe Glück gehabt, dass ich es geschafft habe, trocken zu werden“, weiß sie. „Ich kann mich wieder an Dingen erfreuen, die ich früher nicht mal bemerkt habe. Ich freue mich, wenn ich das Fenster öffne und warme Luft hereinströmt oder wenn ich meine kleine Enkelin im Arm halte und ihre weichen Haare spüre.“

Nicht alle schaffen es wieder ins Licht. Viele Betroffene seien so krank, dass sie nicht mehr kämpfen könnten, berichtet Sabine Thomczyk. „Das sind für mich keine Verlierer“, betont sie. „Das sind Schicksale.“ Um langfristig trocken zu bleiben, muss sie auf sich achtgeben. „Ein Alkoholiker kann niemals sicher vor einem Rückfall sein“, weiß sie und trinkt ihren Kaffee aus. Momentan will sie vor allem eines: leben.

WO FINDE ICH HILFE?

Der Kreuzbund e. V., der seit 125 Jahren besteht, ist eine katholische Selbsthilfe- und Helfergemeinschaft. Er unterstützt dabei, Wege in ein suchtmittelfreies Leben zu finden, und informiert über Behandlungsund Therapiemöglichkeiten. Er bietet Suchtkranken und deren Angehörigen die Teilnahme an Selbsthilfegruppen. Bundesweit gibt es rund 1400 Gruppen. Im Diözesanverband Essen e. V., der jetzt 40 Jahre alt wird, sind es derzeit 95 Gruppen. 900 Mitglieder treffen sich hier einmal wöchentlich, um sich auszutauschen. Der Verband erweitert sein Angebot: Bald soll es zusätzlich Gruppen geben, an denen man online teilnehmen kann.

Selbsthilfegruppen in Ihrer Nähe finden Sie so: telefonisch unter der Nummer 0201 3200345, Sprechzeiten werktags zwischen 9 und 13 Uhr. Im Internet unter www.kreuzbund-dv-essen.de, hier einfach auf „Gruppe finden“ klicken.

Text Kathrin Brüggemann
Fotos Achim Pohl

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