Bewusstsein

Grenzgebiete: Neue Möglichkeiten entdecken

Am „Gabenzaun Altenessen“ können sich Bedürftige einmal pro Woche eine Tüte mit Lebensmitteln abholen.
Dezember 2022

Ohne das Einhalten von gewissen Regeln und Grenzen kann eine Gesellschaft nicht funktionieren – klar. Manchmal ist es jedoch nötig, Grenzen zu überwinden. Wenn man Menschen helfen oder unfaire Systeme ändern möchte zum Beispiel. Aber es gibt auch Fälle, in denen man einen Schritt zurück machen muss, weil man merkt: Da bin ich zu weit gegangen. Die Menschen, die BENE jetzt vorstellt, kennen sich mit solchen persönlichen Grenzgebieten gut aus.

 

GUTE GABEN

„Bitte wartet in Ruhe ab. Es kommt jeder an die Reihe.“ Energisch wendet sich Ulrich Hütte an etwa 300 Menschen, die neben der Kirche in einer langen Schlange stehen und auf ihre Lebensmitteltüten warten. Er leitet das Hilfsprojekt „Gabenzaun Altenessen“, das Bedürftige aus dem Essener Norden einmal pro Woche mit dem Nötigsten versorgen soll.

Zu Beginn der Corona-Pandemie riefen die Evangelische Kirchengemeinde Altenessen-Karnap und die Katholische Pfarrgemeinde St. Johann Baptist die Hilfsaktion ins Leben. Jeden Samstag packten Ehrenamtliche Tüten mit Lebensmitteln und hängten sie für Bedürftige an einen Zaun: Menschen, die Sozialhilfe oder nur eine schmale Rente bekommen, Geflüchtete.

„Inzwischen ist es kein Gabenzaun mehr, sondern viel mehr ein Gabentisch“, sagt Ulrich Hütte. Als Vorsitzender des Kirchenvorstands macht er sich für das Projekt stark. „Gerade in einer Krisenzeit muss die Kirche für die Menschen da sein“, findet er. Die Lebensmittel bezieht er von einer großen Bäckerei und der Tafel. Finanziert wird das Projekt durch Spenden.

„Es kommen immer mehr Menschen“, berichtet Ulrich Hütte besorgt. „Die steigenden Kosten für Lebensmittel bringen viele an ihre finanzielle Belastungsgrenze.“ So geht es auch dem 20-jährigen Hendrik. Offen erzählt der junge Mann, warum er im Moment Unterstützung braucht: „Ich beziehe Sozialhilfe. Das Geld reicht nur noch bis zur Mitte des Monats.“ Er sei immer als einer der Ersten vor Ort. Schon um 7.30 Uhr komme er zu der Lebensmittelausgabe. So sei er sicher, dass er möglichst weit vorn in der immer länger werdenden Schlange stehen könne.

Der „Gabenzaun Altenessen“ befindet sich auf dem Karlsplatz neben der Kirche St. Johann Baptist. Jeden Samstag von 11 bis 11.30 Uhr können sich Bedürftige dort eine Tüte mit Lebensmitteln abholen.

 

ALS ARBEITERKIND AN DIE UNI

In der Bibliothek Biochemie büffeln – für Laura ein Vergnügen. Sie schwärmt von ihrem Medizinstudium an der Universität Duisburg-Essen. „Ist es nicht erstaunlich, was unser Körper alles leisten kann?“, fragt sie mit leuchtenden Augen. Die 22-Jährige, die nach dem Abitur erst mal eine Ausbildung zur Kinderkrankenschwester absolvierte, ist gerade im dritten Semester.

„Zu Beginn des Studiums war ich mit allem überfordert“, erzählt sie. „Besonders mit dem komplexen Kurssystem der medizinischen Fakultät.“ In ihrem Elternhaus spielte die Hochschule keine Rolle. Laura musste sich vieles mühsam selbst aneignen. Auf der Internetseite der Universität entdeckte sie einen Hinweis auf „ArbeiterKind.de“. Sie schrieb eine E-Mail an die gemeinnützige Organisation, schilderte ihr Anliegen und bekam zügig Antworten.

Die Initiative richtet sich an alle, die als Erste in ihrer Familie studieren. Über 6.000 Ehrenamtliche unterstützen bundesweit Menschen, die nicht aus einem akademischen Haushalt kommen. Sie wollen Mut machen, Chancen eröffnen und Grenzen überwinden. Inzwischen gibt es knapp 80 lokale Gruppen, an die man sich wenden kann – einmal im Monat auch persönlich.

Einer der Ehrenamtlichen ist Dennis. Er hat als ehemaliger Student der Betriebswirtschaftslehre das nötige Fachwissen, wenn es um Finanzierungsprobleme geht. „Die meisten Ratsuchenden fragen uns, wie sie das Studium bezahlen können“, erzählt er. Der 30-Jährige, der aus einer Großfamilie kommt, nahm die Hilfe der Organisation selbst in Anspruch. „Mit Fleiß, Engagement und den richtigen Leuten in seinem Umfeld kann man an der Uni bestehen“, sagt er selbstbewusst.

Dafür muss man den Sprung an die Hochschule aber erst mal schaffen. Laut einer Studie des Hochschulbildungsreports nahmen im Jahr 2020 nur 21 von 100 Arbeiterkindern ein Studium auf. Von 100 Akademikerkindern schrieben sich hingegen durchschnittlich 74 an einer Hochschule ein.

Um junge Leute frühzeitig über Finanzierungsmöglichkeiten und Stipendien aufzuklären, besucht die Organisation Schulklassen. „Junge Leute mit Abitur sollten gut informiert sein, um die richtige Entscheidung für ihre Zukunft treffen zu können“, so Lisa Maria Dziobaka. Die Essenerin ist hauptamtlich für die Organisation zuständig. Sie koordiniert die lokalen Gruppen in Nordrhein-Westfalen.

Die 35-Jährige bezeichnet sich als typisches Arbeiterkind: Vater Bergmann, Mutter Krankenschwester. Bei ihr fingen die Probleme schon in der Schulzeit an. „Ich war schlecht in Mathe“, sagt sie. „Nachhilfe konnten sich meine Eltern nicht leisten.“ Ihr war früh klar, dass sie es aus eigener Kraft an die Uni schaffen muss: „Als Arbeiterkind versucht man, verschiedene Wege zum Ziel zu finden. Wenn der eine Weg nicht funktioniert, sucht man sich noch acht andere.“

Informationen zu der Organisation erhalten Sie auf Instagram und im Internet unter arbeiterkind.de.

Zu mehr Chancengerechtigkeit ruft auch der Rat für Bildung des Bistums Essen auf. Näheres unter bene.mg/bildungsgerechtigkeit

 

UNTERIRDISCH IN DIE FREIHEIT

Es ist düster. Die Luft riecht modrig. Der Tunnel ist nur 80 Zentimeter hoch und 60 Zentimeter breit – eine beklemmende Enge. Joachim Neumann liegt mit dem Rücken auf der feuchten Erde. Mit den Füßen führt er den Spaten und sticht ihn kraftvoll in den festen Lehm. Immer und immer wieder.

„Das war eine schwere Arbeit. Man musste nicht nur in den harten Boden reingraben, sondern auch die gelöste Erde abtransportieren“, erinnert sich der 83-jährige Berliner (Foto). Er ist zu Besuch in der Katholischen Akademie „Die Wolfsburg“ in Mülheim. Dort berichtet er, wie er 89 Menschen zur Flucht aus der DDR verhalf.

Neumann selbst hatte schon Ende 1961 mit einem geliehenen Schweizer Pass nach Westberlin fliehen können. „Wir waren in Ostberlin sechs Freunde, die alle wegwollten nach dem Mauerbau“, erinnert er sich. „Wir hatten uns versprochen, dass diejenigen, die es in den Westen schaffen, sich darum kümmern, dass die anderen nachkommen können.“ Auch seine Freundin wollte er zu sich holen. So baute er im Frühjahr 1962 gemeinsam mit 20 Studenten einen Tunnel, der unter der Berliner Mauer hindurchführte.

Der Ausgangspunkt für den Tunnelbau war ein Keller in einer leer stehenden Fabrik in Westberlin, nahe der Grenze. Das Ziel: ein Keller in ei- nem Haus in Ostberlin. Die Fluchthelfer besorgten sich Katasterpläne, in denen jedes Gebäude detailliert eingezeichnet war. Damit konnten sie den Tunnel vermessen und seine Richtung bestimmen. Neumann war damals 22, studierte Bauingenieurswesen und war fest entschlossen, nicht aufzugeben: „Wenn man sich auf so eine Aktion einlässt, muss man sie durchziehen bis zum Ende.“

Knapp vier Monate dauerte es, bis der 140 Meter lange Tunnel fertig war. „Als wir merkten, dass wir an der richtigen Stelle angekommen waren, war das die pure Erleichterung“, so Neumann. Seine Aufgabe war es, die Flüchtlinge in Empfang zu nehmen und ihnen den Weg in „das schwarze Loch“ zu weisen. Da ein Wasserrohrbruch den Tunnel zu fluten drohte, konnten nur 29 Menschen fliehen, danach musste der rettende Durchgang aufgegeben werden.

Neumann ließ sich nicht entmutigen und beteiligte sich an drei weiteren Tunnelbauten. Er ackerte so lange weiter, bis seinen Freunden und sei-ner Freundin – seiner späteren Frau – die Flucht gelang. Nach Abschluss des Studiums arbeitete er als Bauingenieur in Essen und Frankfurt. Erst nach dem Tod seiner Frau zog es ihn im Jahr 2006 „aus nostalgischen Gründen“ wieder nach Berlin.

Jetzt hält der mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnete Mann Vorträge, um an demokratische Werte zu erinnern: „Das, was ich erlebt habe, mag spannend klingen, aber es war eine furchtbare Zeit. Es ist nicht selbstverständlich, dass wir in Deutschland mit einem so hohen Maß an Freiheit leben dürfen.“ Er hofft, dass das so bleibt. Falls nicht, müsse man etwas dagegen tun.

 

SCHÖNE NEUE WELT

Aus dem Alltag ausbrechen, in fremde Welten eintauchen – das ist überall und in den schillerndsten Varianten möglich: mit Videospielen. Ob an Smartphones, Computern oder speziellen Konsolen: 59 Prozent der Deutschen nutzen aktuell solche „Games“, meldet der Verband der Deutschen Games-Branche. Stefan Piasecki kann die Faszination gut verstehen. Er ist Professor für Soziologie und Politik an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW im Ruhrgebiet – und spielt selbst gerne.

„Ich habe als Zehnjähriger zum ersten Mal einen Videospielautomaten gesehen, Space Invaders. Das war ein Schlüsselmoment im Jahr 1979. Zu erkennen, dass man Darstellungen auf einem TV-Schirm nicht nur betrachten, sondern durch eigene Handlungen auch beeinflussen kann. Das hat mich sehr beeindruckt“, erinnert sich Stefan Piasecki. „Später habe ich zehn Jahre selbst in der Spieleindustrie gearbeitet.“ Heute durchleuchtet er das Medium des „Bildschirmspiels“ wissenschaftlich.

Abenteuerspiele mit mehreren Handlungsebenen, Sport- und Geschicklichkeitsspiele, Games, bei denen gepuzzelt und gequizzt wird, Strategieentwicklung und Logik gefragt ist. Es gibt viele Wege, über den Bildschirm der Realität eine Zeit lang zu entfliehen. Doch was ist, wenn die Zeit in der künstlichen Welt zu viel wird? Wenn sich Menschen so in Spielewelten vertiefen, dass sie für andere kaum noch ansprechbar sind?

„Wenn das Spielen eine dominierende Funktion bekommt und andere Lebensbereiche dem untergeordnet werden, ist das schon ein Problem“, räumt Stefan Piasecki ein. „Hilfe sollte dann vor allem verstehend und nicht beleh- rend sein. Man kann fragen, was der oder die andere da eigentlich spielt. Beim Erzählen merken manche erst, dass sie sich verloren haben“, nennt er einen ersten Schritt. Ist weitere Hilfe nötig, kann man sich zum Beispiel an die Familienberatungsstellen der Caritas wenden, die es in allen Städten des Ruhrbistums gibt.

„Leidenschaftliche Beschäftigung findet man doch in vielen Bereichen, zum Beispiel im Sport oder beim Essen“, beruhigt Piasecki, der auch als Jugendmedienschutzprüfer arbeitet. „Man kann bei allem lernen, seinen Konsum zu regulieren.“ Er weiß: Wer bewusst spielt, hat einfach mehr Spaß!

Texte Kathrin Brueggemann und Sandra Gerke

 

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