September 2024
VON WEGEN STILL
Zu Besuch an einer Schule für gehörlose und schwerhörige Kinder in Essen
Religionsunterricht in der 6a. Thema heute: Toleranz. Lehrerin Beate Volkmer möchte von ihrer Klasse wissen, was man im Christentum unter der „Goldenen Regel“ versteht. Ein Mädchen mit roten Locken und Sommersprossen auf der Nase meldet sich. „Das bedeutet, dass man andere immer so behandeln soll, wie man selbst auch behandelt werden möchte“, sagt Luisa. Eine Regel, die sie wichtig findet.
„Ich möchte, dass andere Menschen nett zu mir sind und mich nicht wegen meiner Schwerhörigkeit ausgrenzen“, sagt sie selbstbewusst. Luisa ist die Einzige in ihrer Familie, die ein Hörgerät trägt. Mit dem kleinen Apparat im Ohr liegt ihre Hörfähigkeit bei 100, ohne bei 60 bis 80 Prozent. „Ich fühle mich mit dem Gerät wohler“, sagt sie. Ohne diese technische Unterstützung hört sie ihre eigene Stimme nicht so gut und spricht dann automatisch lauter. „Manche Leute sagen dann zu mir: ,Luisa, schrei nicht so.‘ Das ist ein bisschen nervig.“
Seit zwei Jahren besucht die 13-Jährige die Essener David-Ludwig-Bloch-Schule – eine Förderschule mit dem Schwerpunkt Hören und Kommunikation. Gut 300 Kinder und Jugendliche lernen hier in kleinen Klassen. „Alle haben mehr oder weniger große Probleme mit dem Hören“, sagt Religionslehrerin Beate Volkmer. „Die meisten sind schwerhörig, einige gehörlos, wiederum andere haben eine Fehlhörigkeit – ihnen fällt es schwer, sich auf ein bestimmtes Geräusch zu fokussieren.“
So geht es zum Beispiel Luisas Klassenkameradin Nina. Die Schülerin mit der markanten Brille kann sich kaum auf die Stimme der Lehrerin konzentrieren, wenn draußen die Müllabfuhr vorbeifährt oder die Sitznachbarin ihr etwas zuflüstert. „Dann bekomme ich Kopfschmerzen und verstehe überhaupt nichts mehr“, sagt sie.
Lehrerin Beate Volkmer spricht sehr deutlich und gestenreich. Ihre Hände sind ständig in Bewegung. Um ihren Hals hängt ein Mikrofon. Die 57-Jährige unterrichtet seit 14 Jahren Religion an der Förderschule. Sie ist gelernte Gemeindereferentin, arbeitet mit unterschiedlichen Aufgabenschwerpunkten in zwei Pfarreien in Essen und Duisburg. An zwei Vormittagen pro Woche steht sie als Lehrerin vor ihren Klassen und versucht, Glaubensthemen möglichst verständlich zu vermitteln. „Ich möchte ja, dass die wertvollen religiösen Inhalte auch bei den Kindern ankommen“, sagt sie.
Um auch mit gehörlosen Schülerinnen und Schülern kommunizieren zu können, hat sie sich die Gebärdensprache angeeignet, bei der man Worte mit den Fingern bildet. Wenn man zum Beispiel das Wort „Gott“ gebärden möchte, streckt man Daumen, Zeige- und Mittelfin- ger aus. „Die drei Finger stehen für den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist“, weiß Schülerin Nina. Sie macht auch die Gebärde für das Wort „Jesus“ vor und berührt mit dem Mittelfinger die Innenfläche ihrer Hand. Diese Geste steht für die Wunden, die Jesus nach seiner Kreuzigung an seinen Händen getragen haben soll. Ninas Lieblingsgebärde hat allerdings nichts mit der Kirche zu tun. Sie formt mit Zeigefinger und Daumen einen Kreis und hält diesen an ihre Stirn. „Das bedeutet, dass man keine Ahnung hat“, sagt sie lachend.
Einer, der die Gebärdensprache perfekt beherrscht, ist Thomas Eller. Er ist Lehrer an der Förderschule in Essen und seit seiner Geburt gehörlos. Um andere zu verstehen, liest er ihnen von den Lippen ab. Der Essener ist einer von wenigen gehörlosen Menschen, die verständlich sprechen können: Als Kind musste er das in vielen, heute nicht mehr zeitgemäßen Therapiesitzungen lernen.
Der sportliche Mann unterrichtet hauptsächlich Mathematik und Englisch, bereitet außerdem ältere Jahrgänge in praktischen Projekten auf das Arbeitsleben vor. Gerade macht er mit einer Gruppe gehörloser Jugendlicher die Außenanlagen der Schule sauber. Gekonnt gibt er ihnen Anweisungen. Augenkontakt, gestikulierende Hände. Ein schnelles Hin und Her. „Ich möchte meine Schülerin- nen und Schüler stärken und sie dazu ermutigen, zu ihren Besonderheiten zu stehen“, sagt er. „Ich weiß, welche Schwierigkeiten gehörlose Menschen haben und wie man sprachliche Barrieren überwinden kann.“
Was ihm direkt einfällt, wenn er über problematische Situationen in seinem Leben nachdenkt, sind die Lautsprecherdurchsagen am Flughafen, die er nicht mitbekommt. Die vorbeifahrenden Autos, vor denen er sich morgens auf dem Weg zur Schule erschreckt. Auch die Tatsache, dass viele Fernsehsendungen ohne Untertitel gezeigt werden, schränkt ihn ein. „Das sind nur einige von vielen Nachteilen, die mein Leben prägen. Aber die Vorteile überwiegen. Um zu entspannen, muss ich mich nur hinlegen und meine Augen schließen. Schon habe ich absolute Ruhe. Ein anderes Beispiel: Gesellschaftsspiele, bei denen es darum geht, schnell etwas zu erkennen, fallen mir leicht. Meine Augen gleichen mein fehlendes Gehör aus.“
Seine positive Einstellung gibt er an die jungen Menschen weiter. Er macht mit ihnen auch Ausflüge und ermutigt sie dazu, sich Situationen zu stellen, die sie allein vielleicht vermeiden würden – zum Beispiel den Besuch einer Bäckerei. „Es gibt verschiedene Wege zu kommu- nizieren. Man kann auf das, was man haben möchte, zeigen. Oder man schreibt seinen Wunsch auf einen Zettel, den man dem Verkaufspersonal hinhält. Unsere Gehörlosigkeit ist nun mal nicht sichtbar. Deshalb müssen wir auf uns aufmerksam machen, indem wir offen auf andere zugehen und sie darum bitten, Rücksicht auf uns zu nehmen.“
Unterstützung für Gehörlose bietet im Bistum Essen zum Beispiel das Netzwerk Inklusion, das sich für die Einbeziehung aller Menschen in die Gesellschaft einsetzt. Die Mitarbeitenden stellen Betroffenen zum Beispiel bei kirchlichen Feiern wie Kommunion, Firmung und Trauung einen Gebärdendolmetscher oder eine Gebärdendolmetscherin zur Seite. Um die Organisation in diesem Bereich kümmert sich Netzwerk-Leiterin Sabine Köther. Sie ist unter der Telefonnummer 0201 2204-561 oder unter der E-Mail-Adresse sabine.koether@bistum- essen.de erreichbar.
Text Kathrin Brüggemann