Ist Frieden möglich?

BENE: Das Jahr 2014 ist geprägt von Konflikten und Kriegen. Ukraine, Gaza, Syrien, Nordirak, Libyen – überall scheint die Welt ins Chaos zu stürzen. Warum nimmt die Zahl der Brandherde augenscheinlich so zu?

Hippler: Ich kann nicht sagen, dass die Tendenz steigend ist. Es ist schwer zu definieren, was genau ein Konflikt ist, ab wann daraus ein Großkonflikt oder ein Krieg wird. Sind Staaten involviert, sind es ethnische, sind es religiöse Gruppen? Gab es eine einmalige Gewalthandlung? Welche Mindestzahl von Toten braucht es, um von Krieg zu sprechen? Aber in den letzten vier Jahrzehnten schwankte die Zahl großer Gewaltkonflikte einer Zählung zufolge immer zwischen 30 und 50. Die meisten Kriege scheint es aber Anfang der 1990er Jahre gegeben zu haben.

BENE: Warum haben wir aber diese Wahrnehmung, dass es auf der Welt immer schlimmer wird?

Hippler: Der Unterschied zu Jahren mit ähnlich vielen Konflikten scheint mir in der politischen Relevanz, der Verdichtung in bestimmten Regionen und den Opferzahlen zu liegen. Wir stellen im Jahr 2014 eine Eskalation von großen Gewaltkonflikten fest, die unsere besondere Aufmerksamkeit erregen. Wir haben in Syrien inzwischen mehr als 200 000 Tote. Der Konflikt dort wirkt sich auf den Libanon, auf den Nordirak usw. aus. Dann gab es gerade den Gaza-Krieg, und die dramatische und blutige Eroberung des Nordwestiraks durch den „Islamischen Staat“. Und wir erlebten in den letzten zwei, drei Jahren eine ziemlich dramatische Veränderung gegenüber zum Beispiel 2011. Damals gab es in den arabischen Ländern zwar ein gewisses Gewaltpotential, beim Sturz von Mubarak, in Marokko oder Tunesien. Es gab auch hunderte Tote. Aber letztlich bestand die Dynamik darin, dass sich so etwas wie Pluralismus, wie größere Freiheitsrechte, wie demokratische Gesellschaften entwickelt. Heute hingegen haben wir in der gesamten Region faktisch eine Kriegsdynamik.

BENE: Wer oder was ist aus Ihrer Sicht momentan das größte Übel?

Hippler: Das ist schwer zu sagen. Die humanitären Folgen sind in Ländern wie Syrien oder dem Nordirak katastrophal. Es gibt aber auch Situationen, in denen die Opferzahlen relativ gering sind, es aber trotzdem nicht viel besser ist. Es gibt Einschüchterungssituationen und staatlichen Terrorismus. Denken Sie an Nordkorea. Dort herrscht kein Bürgerkrieg, aber das ist kein Land, wo irgendjemand, der bei Verstand ist, gerne leben möchte. Die Frage dahinter lautet: Ist es schlimmer, dass Leute sich gegen Unrechtsregime auflehnen und dafür sterben, oder dass sie nichts tun und die nächste Generation keine Entwicklungsmöglichkeit hat? Ist es schlimmer, dass es zum Beispiel in einem Dorf gewaltsame Übergriffe gegeben hat, oder ist es langfristig schlimmer, dass bestimmte konfessionelle oder ethnische Gruppen die nächsten 20 Jahre deshalb nicht mehr kooperieren können, es nur noch Misstrauen gibt und das Land sich nicht weiter entwickeln kann?

BENE: Was genau macht ein Friedensforscher?

Hippler: Es klingt paradox: Der größte Teil der Friedensforschung beschäftigt sich eigentlich mit Gewalt. Das ist vergleichbar mit einem Arzt, der sich mit Krankheit beschäftigen muss, weil er für Gesundheit sorgen will. Deshalb sage ich auch gerne: Ich betreibe Friedens- und Konfliktforschung.

BENE: Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf dem so genannten islamischen Gürtel von Nordafrika bis Afghanistan. Warum diese Region?

Hippler: Die Region ist politisch und wirtschaftlich besonders wichtig (Energieversorgung, Migration, Instabilität), und sie ist kulturell und politisch besonders komplex. Zugleich erleben wir ja seit langem, dass dort die Konflikte häufig und zum Teil besonders ernst sind. Daneben aber hege ich eine große Sympathie für die Menschen und Kulturen der Region, so grauenvoll ihre Regierungen auch oft sein mögen.

BENE: Sie sind dutzende Male in diesen Krisen- und Kriegsgebieten unterwegs gewesen. Wie ist es Ihnen dabei ergangen?

Hippler: Als Wissenschaftler stehen einem viele Türen offen. Ich mache Recherche-Reisen, gebe Seminare an Universitäten. Es war häufig relativ leicht. Ich habe bei meinen Reisen von Militärs über Minister bis zum Bettler viele Menschen getroffen und interviewt. In gewissem Sinne ist es sogar leichter als in Deutschland. Einmal war ich mit dem pakistanischen Außenminister verabredet.

Hinterher fiel mir ein, dass ich ihm noch ein Buch geben wollte. Am nächsten Tag bin ich im Taxi noch mal zum Ministerium, um das Buch beim Pförtner abzugeben. Dort wurde ich gleich wieder zum Außenminister vorgelassen: „Kommen Sie doch hoch, dann trinken wir noch einen Tee“. Versuchen Sie das mal in Berlin!

BENE: Haben Sie keine Voreingenommenheit gegenüber einem westlichen Forscher wahrgenommen?

Hippler: Die normalen Menschen begegnen mir in der Regel mit großer Neugier und Freundlichkeit. Auch der Umgang mit Kolleginnen und Kollegen ist meist offen und angenehm. Aber natürlich gab es auch Sondersituationen, vor allem in politisch schwierigen Situationen. In Bagdad sprach ich einmal mit einem kurdischen Jungen, der Softdrinks verkaufte. Ich merkte, dass er sehr nervös war. Und dann sah ich, wie ihn sich nach unserem Gespräch zwei Geheimdienstler zur Brust nahmen. Er sollte erklären, wieso er mit einem ausländischen Spion geredet hatte! Die unglaubliche Spitzelei zu Saddam Husseins Zeiten fand ich oft bedrückender als die Sicherheitsvorkehrungen, die man in schwierigen Ländern und Situationen treffen muss. Also: Man sollte nicht mit Bodyguards herumlaufen, nicht immer am selben Ort schlafen und nicht mit einem nagelneuen Auto fahren. Ich hatte im Irak früher Taxifahrer, die mir gute Freunde empfohlen hatten. So war ich nach menschlichem Ermessen relativ sicher, nicht an irgendwen verkauft zu werden. Aber natürlich bleibt ein Restrisiko.

BENE: Wenn Sie das erzählen, wirken Sie sehr abgeklärt und angstfrei.

Hippler: Das wäre übertrieben, aber ich neige nicht zur Hysterie. Die Chance, getroffen zu werden, ist eher klein, wenn man nicht persönlich das Ziel ist. Allerdings muss ich zugeben, dass die psychische Belastung trotzdem sehr hoch ist. Unter Beschuss schläft man einfach schlecht, selbst wenn man objektiv nicht in Gefahr ist. Furcht ist gesund, solange sie nicht zur Lähmung führt.

BENE: In den vergangenen Monaten hatten Diplomaten und Außenpolitiker alle Hände voll zu tun. Nicht immer hatte man das Gefühl, dass uns das weiter gebracht hätte. Kann Diplomatie für den Frieden eigentlich etwas ausrichten?

Hippler: Grundsätzlich gilt sicher: Je mehr Konfliktparteien, je mehr eigenständige Gruppen es in einem Krisen- oder Kriegsgebiet gibt, desto schwieriger ist es, von außen darauf einzuwirken. Das haben wir in Afghanistan gesehen. Das sehen wir in Syrien und im Nordirak. Aber auch bei Konflikten mit zwei oder drei Konfliktparteien hängen die Erfolgsaussichten trotzdem davon ab, ob die Seiten den politischen Willen dazu haben, sich zu verständigen. Wenn eine Seite nicht will, können Sie vermitteln, bis Sie schwarz werden.

BENE: Gehen wir die größten Konflikte der vergangenen Monate durch... Chance auf Frieden zwischen Israel und Gaza?

Hippler: Eigentlich wäre dieser Konflikt ausgesprochen einfach zu lösen: Zweistaatlichkeit, sowie die Räumung der besetzten Gebiete. Es gibt nur wenige Akteure und eine Lösung, die jeder seit zwanzig Jahren kennt. Trotzdem ist sie unerreichbar, weil insbesondere von der israelischen Rechten nicht politisch gewollt. Israel ist hochgradig abhängig von den USA und dem Westen. Hätte US-Präsident Obama diese Lösung durchgesetzt, wie es zu Beginn seiner ersten Amtszeit schien, wären wir dort sicher weiter.

BENE: Chance auf Frieden in der Ukraine, auf Frieden mit Russland?

Hippler: Auch hier wäre es sehr einfach. Wenn Putin sich ans Völkerrecht halten würde, wäre der Konflikt in einem halben Jahr vorbei. Der Konflikt lebt davon, dass eine Seite den Konflikt nicht beenden möchte, stattdessen die Eskalation kontrolliert vorantreibt. Dagegen kann der Westen nicht viel ausrichten. Sanktionen sind ein politisches Symbol, aber kein Mensch glaubt, dass Russland dadurch gezwungen ist, sein Verhalten zu ändern. Putin hat wohl offensichtlich die Entscheidung getroffen, dass er weiter gehen kann. Der Westen kann der Ukraine Geld leihen, aber das wird keine derartige Wirkung haben, dass der Konflikt endet. Eine friedfertige Lösung ist nur mit Moskau möglich. Da sitzt Putin am längeren Hebel.

Beten. Bekennen. Spenden.

Die Verfolgung der Jesiden und Christen durch die IS-Terrormilizen hat an Rhein und Ruhr eine Welle der Solidarität in Gang gesetzt. „Bekennen.Beten.Spenden.“ heißt die Aktion, mit der Ruhrbistum und Caritas die Unterstützung für die Verfolgten im Irak und in Syrien bündeln. Bischof Franz-Josef Overbeck hat Ikonen der syrischen Märtyrer Kosmas und Damian als Zeichen für dieses wichtige Anliegen in die Gemeinden des Bistums ausgesandt. Im November sind sie in den Pfarreien St. Urbanus (Gelsenkirchen-Buer), Medardus (Lüdenscheid) und Christus-König (Halver) zu Gast.

Gleichzeitig bittet das Ruhrbistum um Spenden: Spendenkonto: Caritasverband für das Bistum Essen e.V.; Stichwort: „Flüchtlinge Nord-Irak“, IBAN DE75 3606 0295 0000 0144 00.

BENE: Chance auf Frieden im Nordirak und Syrien?

Hippler: Was Angst macht, ist die total übersteigerte Brutalität des IS: Sein terroristisches Vorgehen, seine Mobilisierungs- und Einschüchterungsmethoden. Seine Botschaft: „Wir sind die Machos, wir machen alles für den Sieg!“ Es spricht aber einiges dafür, dass der IS seinen stärksten Punkt erreicht hat. Dazu muss man zum Vergleich ins Jahr 2006/2007 schauen. Im irakischen Bürgerkrieg war Al Qaida einer der stärksten Gewaltakteure, benahm sich aber in den kontrollierten Gegenden als brutale Besatzungstruppe. Sie haben die eigenen Leute, die sunnitischen Araber, unterdrückt, die ihre eigentliche Kraftquelle waren. Im Kern haben sie damit politischen Selbstmord begangen. Der IS ist ungefähr am gleichen Punkt: Er hat zum Beispiel kürzlich 700 sunnitische Araber in Syrien massakriert - die eigene potentielle Basis. Das kommt nicht gut an. Wenn sie das so weitermachen, werden sie ihre Basis und Unterstützung verlieren. Gleichzeitig fliegen die USA Luftangriffe und die Gegenseiten werden aufgerüstet. Ich denke, es ist eine Frage von einem bis drei Jahren.

BENE: Wobei damit nicht das Ende der Konflikte in der Region angebrochen wäre.

Hippler: Vieles, was die Kurden jetzt tun, ist schon auf die Zeit danach ausgerichtet. Klar ist: Es werden Konfliktlinien im Irak bleiben - mindestens zwischen irakischer Zentralregierung und den Kurden um die Unabhängigkeit und die Vorherrschaft in Kirkuk mit seinem Erdöl-Reichtum.

BENE: Nach christlichen und demokratischen Wertevorstellungen muss die Religionsfreiheit gelten. Krieg im Namen Gottes, beziehungsweise Allahs, ist den Menschen hier kaum noch vermittelbar und erinnert ans Mittelalter.

Hippler: Wir leben in einem Land, wo wir aus rassistischen Gründen sechs Millionen Juden industriell umgebracht haben. Hat uns das ins Mittelalter befördert oder war das einfach nur ein riesiges Verbrechen? Wurde das aus religiösen Gründen gemacht oder aus säkularen? Wieso unterscheiden wir zwischen religiösen und säkularen Verbrechern? Saddam Hussein hat als säkularer Diktator vielleicht 300 000 Menschen massakriert. Das hat uns damals nicht wirklich gestört, wenn man ehrlich ist. Wenn der gleiche Mann die gleichen Verbrechen im Namen Gottes begangen hätte, wäre das anders bei uns angekommen. Mir ist völlig gleichgültig, ob ein Mörder behauptet, er wäre säkular oder er würde an Gott glauben. Wer sagt mir denn, ob einer wirklich fromm ist oder nur eine Legitimation braucht? Wenn Leute große Verbrechen begehen, legitimieren sie das in der Regel nie mit ihrer Machtbesessenheit, sondern immer damit, dass es für eine „gute Sache“ ist.

BENE: Wäre es ohne Religionen auf der Welt friedlicher?

Hippler: Nein, wieso denn? Ich glaube schon, dass Religion eine Rolle spielt. Aber nicht die Rolle der Verursachung von Gewalt. Noch einmal: Man braucht eine starke Legitimation. Welche, das ist sehr wandelbar. Sie müssen ihre Gewalttaten aus einer höheren Autorität ableiten. Und natürlich nimmt man immer Begründungssysteme, die zu dem gegebenen Zeitpunkt in der gegebenen Gesellschaft überzeugend und konsensfähig sind. Wie Hitlers Kampf gegen den Bolschewismus. Mit Demokratie und Menschenrechten als Ideologie hätte er den Feldzug gegen Russland nicht starten können.

BENE: Warum hat Allah heute diese höhere Autorität?

Hippler: Die anderen Angebote auf dem ideologischen Markt sind alle diskreditiert. Der Marxismus-Leninismus ist nicht mehr das, was er mal war. Der klassische Nationalismus hat nicht so richtig funktioniert, der arabische Liberalismus und Sozialismus ebenso wenig. Alles, was der Nahe und Mittlere Osten aus dem Westen ideologisch importieren und adaptieren wollte, ist gescheitert. Wenn in den 1960er und 70er Jahren Bombenanschläge, Flugzeugentführungen oder Attentate verübt wurden, wurde das mit „nationaler Befreiung“ begründet. Wenn ähnliche Leute heute die gleichen Verbrechen begehen, sprechen sie nicht mehr von natio-naler Befreiung, sondern von Gott. Und in 30 Jahren gibt es vielleicht irgendwas anderes.

BENE: Und wie bewerten Sie den westlichen Einsatz für Demokratie und Menschenrechte? Ist das nicht heute ein höheres, erstrebenswertes Ziel?

Hippler: Im Nahen Osten halten viele das für zynisch. Die Erfahrung ist eher: Da werden Demokratisierungsdiskurse angeboten, und am Ende bestimmen die Amerikaner, wer der nächste Präsident wird. Da sagen sich die Menschen: Wenn das Demokratisierung ist, bin ich gegen Demokratisierung. Auch im Westen glauben die Menschen einfach gerne Dinge, die sie selber gut dastehen lassen. Was ist „das Westliche“? Die Aufklärung, Goethe, Menschenrechte. Ja. Aber zur deutschen Kulturgeschichte gehören auch der Rassismus, Faschismus und Stalinismus. Ich fühle mich verpflichtet, Geschichte so zu nehmen, wie sie war und nicht: mir das Beste herauszupicken. Wenn ich die Ambivalenz heller und dunkler Seiten in unserer Gesellschaft zugrunde lege, dann kann ich auch andere Gesellschaften in ihrer Ambivalenz besser einschätzen.

BENE: Haben wir denn trotzdem aus der Geschichte gelernt?

Hippler: Ich glaube, dass die deutsche Gesellschaft schon mehr aus ihrer Geschichte gelernt hat als viele andere. Und unsere Zurückhaltung bei internationalen Konflikten ist auch ein Lerneffekt aus unserer Geschichte. Aber es gibt auch Verlernprozesse. Man kann sich nicht darauf verlassen, dass wir die Lektionen, die wir kollektiv gelernt haben, in zehn oder zwanzig Jahren noch kennen. Dafür gibt es keine Garantie.

BENE: Glauben Sie an Frieden in der Welt?

Hippler: Ich kann an Gott glauben oder nicht. Aber an Frieden kann ich nicht „glauben“ - den kann ich analysieren, oder ich kann ihn mir wünschen. Wenn Sie mich fragen, ob Frieden auf der ganzen Welt möglich ist? Das wird schwierig. Da habe ich Fantasieprobleme. Was den Nahen und Mittleren Osten betrifft, denke ich, wird die Konfliktwelle in den nächsten fünf bis zehn Jahren abklingen. Bei Palästina bin ich allerdings fürchterlich deprimiert. Dort sehe ich kein Land. Was aus der Ukraine und Europa wird? Die vergangenen Wochen waren schon beängstigend. Und das geeinte Europa habe ich vor zehn Jahren auch optimistischer gesehen. Frieden ist ein zentrales Ziel, für das man sich engagieren sollte – kein Endzustand, den wir in absehbarer Zeit weltweit erreichen würden.

Text: Jutta Laege

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