Glaubenssatz

Was lernen wir aus 2015, Herr Bischof?

Bischof Franz-Josef Overbeck wurde am 19. Juni 1964 in Marl geboren. Er studierte Philosophie und Theologie in Münster und Rom, wurde 1989 zum Priester geweiht. 2007 wurde er Weihbischof in Münster, 2009 ernannte ihn der damalige Papst Benedikt zum Bischof von Essen. Overbeck ist außerdem seit 2011 Militärbischof für die Bundeswehr und Adveniatbischof.

Ein schwieriges Jahr geht zu Ende. Es begann mit dem furchtbaren Anschlag auf „Charlie Hebdo“ und endete mit den Massaker von Paris. Dazu kommen unzählige globale Konflikte, kaum kontrollierbare Flüchtlingsströme und ein uneiniges Europa. Ein Gespräch mit dem Essener Bischof Franz-Josef-Overbeck über die Anstrengungen des ablaufenden Jahres und die Herausforderungen an unsere Gesellschaft und die Kirche im Ruhrbistum.

BENE: Wie haben Sie dieses Jahr erlebt?
Overbeck: Es war ein ausgesprochen konfliktreiches Jahr, die gesamte politische Architektur verändert sich. Diese Veränderungsprozesse sind radikal, sie betreffen nicht nur die Weiterentwicklung der Europäischen Union, die sichtbar notwendig ist, sondern auch die vielfach gewalttätigen Konflikte im Mittleren Osten und Afghanistan, sowie in Afrika, Indien und Südostasien. Wenn man alles zusammennimmt, kann man wohl von rund zwei Milliarden Menschen sprechen, die künftig aufgrund all dieser Konflikte extremen Veränderungsprozessen unterworfen sind. Die Flüchtlingsströme sind das einschneidendste Ereignis dieses Jahres. Gleiches gilt für die Pariser Anschläge vom 13. November 2015.

BENE: Der Bundestag hat der Beteiligung der Bundeswehr im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) in Syrien und im Irak zugestimmt. Welche Haltung haben Sie als Militärbischof zu dem Einsatz?
Overbeck: Die Anwendung militärischer Gewalt darf nur als Ultima Ratio, als letztes Mittel in Betracht gezogen werden und bedarf einer begründeten Aussicht auf Erfolg. Es muss oberstes Ziel bleiben, auf allen politischen, militärischen und gesellschaftlichen Ebenen darauf hinzuwirken, dass sowohl der militärische Einsatz als auch die Gewaltbereitschaft aller Parteien schnellstmöglich ein Ende finden.

BENE: Wie bewerten Sie die Sorgen, die sich Menschen angesichts der weltweiten Probleme und der Flüchtlingsfragen machen?
Overbeck: Überall, wo Menschen Sicherheit verlieren, egal welcher Art, werden sie ängstlicher. Das gilt für alle Lebensbereiche und auch beim Thema Flüchtlinge. Wenn in einer solchen Intensität Menschen zu uns kommen, aus sichtbar anderen kulturellen Traditionen, Zusammenhängen, mit anderen Sprachen und an deren Religionen, dann ist das ein ganz große Herausforderung für die Gesellschaft, in der wir leben, die sich seit der Wiedervereinigung, so ist mein Eindruck, gut eingerichtet hatte. Unsere gewohnten Gesellschaftsformationen werden sich neu durchmischen. Wir lernen gerade durch die Folgen der Digitalisierung, was Globalisierung auch ist: nicht nur nettes Zappen durch die Weltgeschichte, sondern wirkliches Aufnehmen derer, die zur Weltgeschichte gehören. Ich habe in der Weihnachtspredigt im vergangenen Jahr gesagt: Das Boot ist noch lange nicht voll. Der vielfache Protest, der mich daraufhin erreichte, hat mich nicht überrascht und auch nicht erschüttert. Ich gehöre zu denen, die die Bedenken sehen und die Ängste ernst nehmen, aber ich bin überhaupt kein Bedenkenträger und auch nicht ängstlich und furchtsam.

BENE: Wenn Sie die Bilder von flüchtenden Menschen sehen, wenn Sie mit Flüchtlingen Kontakt haben: Was macht das mit Ihnen als Mensch?
Overbeck: Ich denke immer an die Heimatlosigkeit dieser Menschen, ihre Not, von zuhause weggehen zu müssen, um unversehrt und am Leben zu bleiben. Das berührt mich sehr und zeigt mir, dass wir aufnahmebereit bleiben müssen.

BENE: Das Ruhrgebiet war immer ein Schmelztiegel der Nationen. Sind wir hier besser gewappnet als andere?
Overbeck: Ich bin immer wieder erstaunt, sehr dankbar und sage das auch immer ganz laut: Wir haben im Ruhrgebiet weder die Integrationsprobleme, die andere Bundesländer haben, noch nehme ich sie atmosphärisch in dieser Heftigkeit wahr, weil immer wieder seit mehr als hundert Jahren viele Menschen in unsere Region kommen. Wir sollten alle stolz darauf sein, was hier im Ruhrgebiet in aller Selbstverständlichkeit geschieht. Ich war kürzlich in der St. Michaelskirche in Oberhausen, wo Kirchenbänke als Ablageflächen für Kleiderspenden genutzt werden, weil es keinen anderen Platz gab.

BENE: Ein schönes Beispiel! Auch wir von BENE werden oft gefragt: Was tut die katholische Kirche eigentlich konkret für die Flüchtlinge?
Overbeck: Die Solidarität aller hier im Ruhrgebiet ist immens, auch über die Religionen hinaus. Die katholische Kirche tut, was sie kann. Das geschieht vor allem durch die Haupt- und vielen Ehrenamtlichen vor Ort. Es werden Spenden gesammelt, es gibt Bildungs- und Sprachangebote. Auch die Caritas und andere Träger mit ihren Strukturen sorgen dafür, dass Menschen willkommen geheißen werden können. Ich erinnere zum Beispiel an die Aufrufe in St. Josef in Gelsenkirchen- Scholven, nachdem eine Ersteinrichtung in Dortmund geschlossen worden war und über Nacht hunderte Flüchtlinge untergebracht werden mussten. Innerhalb eines Tages kamen mehr Spenden zusammen, als akut benötigt wurden.

BENE: Könnte die Kirche nicht auch für Unterbringung sorgen?
Overbeck: Es gibt immer wieder diese Forderung, leerstehende Kirchen oder Gebäude zur Verfügung zu stellen. In Gelsenkirchen laufen beispielsweise Gespräche mit der Pfarrei St. Urbanus, die 2007 geschlossene St.-Theresia-Kirche zur vorübergehenden Flüchtlingsunterkunft zu machen. Grundsätzlich müssen wir aber ganz nüchtern sagen: Unsere Möglichkeiten sind sehr begrenzt. Es geht nicht ohne sanitäre Anlagen, Küchen und die Beachtung von Sicherheitsauflagen. Wir sind nicht dagegen, aber die Bedingungen, die auch die kommunale Aufsicht an Flüchtlingsunterbringungen stellt, sind meist nicht gegeben.

BENE: Kirche und Geld – immer ein viel diskutiertes Thema. Was tut die Kirche denn finanziell für die Flüchtlinge?
Overbeck: Zum einen gibt es die Unterstützung durch unsere Pfarreien und kirchlichen Träger, die ja sehr konkret vor Ort helfen. Wir haben aber auch – entsprechend unserer Möglichkeiten – zwei Fonds aufgelegt, mit zwei Mal jeweils 250.000 Euro. Auch wenn wir nicht über so viele Mittel verfügen wie andere Diözesen, haben wir damit doch ein deutliches Zeichen gesetzt; nach anfänglicher Zurückhaltung wird das Geld für viele Flüchtlingsaktionen auch abgerufen. Und vergessen wir die gesamte Caritas nicht. Das sind wir, die Kirche von Essen.

BENE: Wenn Menschen, die sich als Christen bezeichnen, dennoch vor der „Gefahr der Islamisierung“ warnen, was sagen Sie ihnen?
Overbeck: Ich kann das menschlich durchaus verstehen. Aber das Christentum, die Kirche, lebt vom Potenzial der Hoffnung. Und die Hoffnung muss sein: Menschen eine Heimat zu geben, die Heimat brauchen, und sich in Solidarität zu üben mit denen, die in Not sind. Da sind wir in der Spur Jesu. Es ist unser Auftrag, und deshalb müssen wir die vorpreschende Gruppe in unserer Gesellschaft sein, die sagt: Wir haben Veränderungspotenzial! Wir haben keine Angst, sondern einen Glauben, der uns trägt – gerade auch in Zeiten von großen Veränderungen und Verunsicherungen.

BENE: Dazu passt Angela Merkels Satz des Jahres „Wir schaffen das!“ Darüber ist ein großer Meinungsstreit entbrannt. Was bedeutet diese Kontroverse für die Zukunft unserer Gesellschaft?
Overbeck: Es geht darum, noch einmal zu zeigen, dass wir das Grundgesetz leben. Dass es das Recht der Unversehrtheit an Leib und Seele nicht nur für uns, die wir hier leben, gibt, sondern für alle Menschen. Und dass wir uns dafür unbedingt einsetzen müssen. Also frage ich ganz einfach: Sollen wir Menschen an Zäunen stehen lassen? Wir als Deutsche wissen doch, dass das Bauen von Mauern Konflikte allenfalls verlagert, aber niemals löst. Ich selber habe die Hoffnung, dass viele Flüchtlinge wieder zurückkehren und dann zu guten Botschaftern nicht nur Deutschlands, auch Europas, werden und zeigen, mit welch zivilisatorischen Kraft wir humanitären Katastrophen begegnen können.

BENE: Auch die katholische Kirche ist einem enormen Veränderungsprozess unterworfen. Im Herbst beriet in Rom die Familiensynode einen ganzen Katalog gesellschaftlich relevanter, familienpolitischer Themen – das Ergebnis war für viele ernüchternd. Wie sehen Sie das?
Overbeck: Zunächst einmal ist der synodale Weg, der eingeschlagen und von Papst Franziskus angetrieben wird, sehr positiv zu bewerten. Wir stehen auch als Weltkirche vor einer großen Herausforderung. Wir müssen unsere Einheit neu in pluralen Zusammenhängen leben und auch verstehen lernen. Das hat Differenzierungen im Umgang mit der Anwendung der kirchlichen Lehre zur Folge, wie wir sie bisher noch nicht gewohnt sind. Wir tragen alle das gemeinsame Erbe unserer Kirche mit. Aber unter den postsäkularen Bedingungen in Europa bedeutet das etwas anderes als etwa in einer volkskirchlich bestimmten Kirche in Lateinamerika oder als in Afrika mit wieder anderen Lebensbedingungen. Entsprechend unterschiedlich sind die Meinungen während der Synode ausgefallen. Was die einen für vollkommen normal halten, ist für die anderen revolutionär, für wieder andere völlig reaktionär.

BENE: Was wird sich in der kirchlichen und eucharistischen Praxis aufgrund der Synode denn nun messbar ändern?
Overbeck: Bei der Zulassung von zivil geschieden Wiederverheirateten zur Eucharistie ist eine Tür geöffnet worden zu einer Einzelfalllösung. Noch ist die Schwelle nicht überschritten. Es gibt ja immer noch viele, die sagen, das dürfen wir nicht tun, und andere, die meinen, wir müssten schon vier, fünf Schritte weiter sein. Ich möchte für uns hier im Ruhrbistum vor allem unterstreichen: Wir können nur Kirche sein, indem wir erstens Entwicklung ermöglichen und zweitens Vertrauen schaffen. Wenn beide Zielperspektiven stimmen, werden wir sehen, wie wir diese Schwelle überschreiten. Das Ganze darf allerdings nicht unter unserem Niveau geschehen. Die 2000 Jahre Denk-, Glaubens- und Kirchengeschichte und die Erfahrungen lehren uns auch, dass in den Grundsätzen kirchlicher Morallehre vieles aufbewahrt ist, das für alle Menschen heilsam ist, um gut leben zu können.

BENE: Können Sie dennoch verstehen, dass es manchem schwer fällt, weiter an die Entwicklungsfähigkeit der katholischen Kirche zu glauben?
Overbeck: Wenn man die Synode nur an scheinbar vorher schon formulierten Ergebnissen und Erwartungen festmacht, dann war das sicher enttäuschend. Da heißt es dann natürlich: Die Kirche ändert sich ja nicht! Aber wenn man betrachtet, dass beispielsweise die deutschsprachige Gruppe eine Entschuldigung formuliert hat gegenüber denen, die, wie man früher sagte, „anders sind als andere“, dann ist das schon bemerkenswert und zeigt, dass Kirche sich verändert. Wir verändern uns in einem sehr eigenen Schritttempo. Die pastorale Praxis und die Lehre stehen oft in einem Spannungsverhältnis. Aber als Organisation, die wir als Kirche ja sind, dürfen wir uns natürlich nicht mit Pragmatismus abfinden, sondern müssen klar und begründet sagen, warum wir etwas tun oder lassen. Ich kann nur zur Geduld einladen und ermuntern, mit den Geistlichen vor Ort ins Gespräch zu kommen und nach Lösungen zu suchen. Ich werde das als Bischof unterstützen.

BENE: Die Einnahmen sind rückläufig. Das bedeutet für Pfarreien im Bistum Essen, dass weitere Kirchenschließungen und Einsparungen vorgenommen werden müssen. Wie sollen die, die noch bei Kirche mitarbeiten, das verkraften?
Overbeck: Es gibt hier eine Analogie zur Flüchtlingsfrage. Wenn alte Sicherheit und lieb gewonnene Traditionen genommen werden, führt das zu Angst und Überforderung. Ich kann den Schmerz des Abschieds verstehen, stelle aber die Frage: Bleiben wir in überholten Strukturen stecken oder machen wir uns wie die Apostel auf den Weg? Wer meint, er könne mit dem alten Gepäck in die Zukunft gehen, der wird Enttäuschungen erleben. Die wirtschaftlichen, sozialen und demographischen Entwicklungen sind radikal: Selbst wenn es beim Alten bleiben könnte, dürfen wir nicht beim Alten bleiben, da wir es uns nicht mehr leisten können. Was soll ich denn zum Beispiel Jugendlichen sagen, die kein Interesse mehr haben an alten pfarrgemeindlichen Strukturen? Wir müssen uns öffnen – mit konkreten Projekten, wie wir sie in unserem Zukunftsbild-Prozess beschrieben haben. Das müssen wir als Chance begreifen.

BENE: Welche Herausforderungen gilt es im kommenden Jahr im Ruhrbistum zu meistern?
Overbeck: Ich bin froh, dass die katholische Kirche in unserer Region ausgesprochen vielgestaltig ist. Die angestoßenen Projekte des Zukunftsbildes symbolisieren ja im weitesten Sinne das Thema Willkommenskultur. Wir zeigen damit neben den klassischen Pfarreistrukturen die anderen Andockpunkte für kirchliches Leben auf. Das fängt bei individuell gestalteten freudigen Ereignissen wie Trauungen an und hört bei der Bewältigung von Trauer und Beerdigungen auf. Das müssen wir flexibel begleiten können, und das entwickeln wir nach vorne. Auf der anderen Seite haben wir natürlich den Pfarreientwicklungsprozess mit den erforderlichen ökonomischen Maßnahmen. Es muss gespart werden, dennoch kann in den Pfarreien mit der Bandbreite, die wir als katholische Kirche haben, ganz viel in Gang gebracht werden. Wenn es uns gelingt, diese Prozesse zu verbinden, dann wird viel geschehen in 2016 und auch 2017.

BENE: Wie werden Sie das Weihnachtsfest und den Jahreswechsel verbringen?
Overbeck: Zum einen natürlich mit vielen Gottesdiensten. Es ist sogar eine Taufe dabei, auf die ich mich sehr freue. Ich werde Freunde und Familie besuchen und wünsche mir ansonsten, dass die Tage zwischen den Jahren ein bisschen ruhiger werden. Ich mag diese Zeit sehr. Allen BENE-Lesern will ich noch sagen: Angesichts der Erfahrungen des Jahres 2015 und mit Blick auf die Weihnachtsgeschichte gebe ich gerne den Wunsch der Engel an die Hirten weiter: Habt keine Angst, fürchtet Euch nicht! Ich wünsche Ihnen gesegnete und frohe Weihnachten.

Das Gespräch führte Jutta Laege

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