WIEDER SÜCHTIG NACH LEBEN

Mit geschlossenen Augen sitzt Heidemarie Rosin auf der rustikalen Holzbank, die hinter ihrer Arbeitsstätte steht. Sie atmet tief ein und aus, genießt die Frühlingsluft. Die 73-Jährige ist eine der 15 ehrenamt lichen Mitarbeiter, die sich beim Suchtnotruf Essen e. V. um suchtkranke Menschen kümmern. 

„Ich weiß, wie sich Suchtkranke fühlen. Schließlich war ich selbst 20 Jahre alkoholabhängig“, gibt sie ohne Scham zu. Nachdem ihre Kinder aus dem Haus waren, fühlt sie sich nicht mehr gebraucht, betäubt die negativen Gefühle mit Alkohol. Zuerst war es „nur“ das Glas Wein am Abend, später anderthalb Flaschen Weinbrand pro Tag. „Man rutscht da rein, ohne es zu merken“, gesteht sie. Erst als sie sich kaum noch um den Haushalt kümmern kann und ihr Körper versagt, geht sie zum Arzt. Die Folge: Klinik, Entgiftung, Therapie. Danach besucht sie zwei Jahre lang die Volkshochschule, lernt Italienisch und absolviert Computerkurse. „Ich habe wieder Selbstbewusstsein“, sagt sie lächelnd. Heidemarie hat es geschafft. Jetzt gibt sie ihre Erfahrungen an die süchtigen Menschen weiter, die sie während ihrer Schicht anrufen.

„Wir bieten ein Ohr“, erklärt Natalie Steinert (36), Leiterin des Suchtnotrufes. Sie spricht eindringlich und deutlich. „Die Menschen, die uns kontaktieren, können anonym anrufen.“ So sinkt die Hemmschwelle. Nicht nur Betroffene melden sich – auch viele Angehörige suchen Hilfe. „Eine Sucht ist eine Systemkrankheit, die die ganze Familie zerstört. Oft geraten Angehörige in eine Co-Abhängigkeit.“ Die Mitarbeiter des Suchtnotrufes, die in einem liebevoll eingerichteten Fachwerkhaus in Essen-Heidhausen arbeiten, sind keine Therapeuten – sie geben lediglich Ratschläge und Hilfestellungen. „Wir sind das Bindeglied zwischen dem Betroffenen und einer fachkompetenteren Einrichtung.“ Wichtig sei es, den Anrufer ernst zu nehmen. „Ich verurteile niemanden, der im Konsum ist“, so Steinert ernst. „Auch dann nicht, wenn zum Beispiel ein Spielsüchtiger in 14 Tagen 20 000 Euro verspielt hat. Meine Aufgabe ist es, den Betroffenen in seiner Entscheidung, sich Hilfe zu holen, zu bestärken.“

„Die Sucht macht vor niemandem Halt“

Eine Sucht, so die Expertin, sei ein Zeichen dafür, dass dem Betroffenen etwas fehlt: Anerkennung, Zuwendung, Selbstbewusstsein. Wenn diese Bedürfnisse nicht gestillt werden, sucht er sich Ersatzstoffe. „Wobei der süchtige Mensch nicht nach dem Stoff abhängig ist, sondern nach dem Gefühl, das der Stoff in ihm auslöst.“ Ein Beispiel: Ein Kaufsüchtiger kauft Unmengen an Produkten, um so das Gefühl der inneren Leere zu betäuben. Betroffene verschulden sich oft, haben teilweise den ganzen Keller voll unausgepackter Neuware. „Die Sucht macht vor niemandem Halt“, so Detlef Krüger (63), der seit zwei Jahren ehrenamtlich für den Verein tätig ist. Er verantwortet die Presse- und Informationsarbeit. „Der Süchtige ist längst nicht mehr der Obdachlose auf der Parkbank oder der ,Junkie‘ am Bahnhof. Bei uns rufen Menschen aus jeder Gesellschafts- und Bildungsschicht an: Professoren, Lehrer, Arbeitslose, Hausfrauen, Studenten, Eltern. Wir leben in einer Gesellschaft mit einem hohen Suchtpotenzial.“

Auffällig sei, dass immer mehr junge Menschen in die Sucht geraten, so Natalie Steinert. Sie veranstaltet mit einem Team aus erfahrenen Kollegen wöchentlich Präventionsveranstaltungen für Acht- bis Zwölfklässler. „Die Kids steigen direkt mit harten Drogen ein und sind oft polytox, also von verschiedenen Mitteln abhängig.“ Ein 23-Jähriger, der bereits seinen siebten Entzug macht, sei leider keine Seltenheit. Aus vielen Gesprächen weiß Natalie Steinert, wie schwer es ist, als junger Mensch von der Sucht loszukommen.  Doch sie ist davon überzeugt, dass der Ausstieg für jeden machbar sei. „Die Eigenmotivation ist der Schlüssel.
Das Ziel: Wieder süchtig nach dem Leben zu sein.“ Wichtig sei die dauerhafte Abstinenz. „Es ist ein Trugschluss, dass der Süchtige den Stoff kontrolliert. Der Stoff kontrolliert immer ihn.“ Natalie Steinerts Stimme wird lauter. Es ist ihr offenbar ein Anliegen, verstanden und gehört zu werden.

Oft sind diese Menschen feinfühliger als andere

Während des Gesprächs klingelt mehrmals das Telefon. Natalie Steinert und Detlef Krüger gehen abwechselnd an den Apparat, sprechen auf einfühlsame Art und Weise mit dem Anrufer. „Gerade war eine 61-jährige Dame am Apparat, die seit ihrem 48. Lebensjahr trinkt“, berichtet Detlef Krüger nach einem dieser Telefonate. „Sie war mittelschwer alkoholisiert. Obwohl sie eine Langzeittherapie hinter sich hat, kann sie immer noch nicht zugeben, dass sie Alkoholikerin ist.“

Vielen Anrufern falle es schwer, sich ihr Problem einzugestehen. „Sie befürchten, stigmatisiert zu werden“, vermutet Natalie Steinert. „Dabei sind gerade diese Menschen so wertvoll, weil sie oft sensibler und feinfühliger sind als andere.“ Die zierliche Frau hofft, dass sich in dieser Hinsicht das Bewusstsein in der Gesellschaft ändert. Weniger Leistungsdruck, weniger Ellenbogengesellschaft, dafür mehr Verständnis und Wertschätzung. „Gegenseitige Wertschätzung ist definitiv ein Präventionsfaktor“, erklärt sie. „Kinder sollten daher in ihrer Eigenartigkeit unterstützt werden. Man ist schließlich nicht nur dann etwas wert, wenn man
etwas leistet. Man ist etwas wert, weil man ist. Darum geht’s.“

Dringend Helfer gesucht

Der Suchtnotruf Essen e. V. sucht Menschen, die sich zum ehrenamtlichen Suchtkrankenhelfer ausbilden lassen möchten. Voraussetzungen: eine gestärkte Persönlichkeit, rhetorische Fähigkeiten und die Bereitschaft zum Zuhören. Die Helfer werden ein halbes Jahr lang im wöchentlichen Turnus geschult. Während der Ausbildungsphase werden unter anderem diverse Sucht-
hilfeeinrichtungen und Beratungsstellen besucht. Der nächste
Kurs beginnt im Herbst 2016. Anmeldungen bei Detlef Krüger, Bereich Presse & Information, Tel.: 0172/ 5388576 oder unter Tel.: 0201/403840. Weitere Infos: www.suchtnotruf-essen.com

Unter der Telefonnummer 0201/403840 ist der Suchtnotruf Essen e. V. zu erreichen. Betroffene und Angehörige können sich hier rund um die Uhr anonym melden. Die Einrichtung hat ihren Sitz auf einem weitläufigen
Gelände in Essen-Heidhausen. Getragen wird sie von der GBS-Suchthilfeeinrichtung „Die Fähre“, der Fachklinik Kamillushaus der Contilia sowie dem LVR-Klinikum Essen. Die Mitarbeiter vermitteln die Anrufer bei Bedarf an Ärzte, Fachkliniken und Selbsthilfegruppen wie zum Beispiel den Kreuzbund des Diözesanverbands  Essen. Dieser organisiert im Ruhrbistum über 115 Suchtselbsthilfegruppen. Weitere Infos: www.kreuzbund-dv-essen.de

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